Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
schuldig? Brunetti, dem Verstellung und Maskerade wahrlich nichts Neues waren, nahm Niccolini seine Trauer durchaus ab. Er erinnerte sich an das Gesicht des Arztes, nachdem dieser damit herausgeplatzt war, dass auch er Obduktionen durchgeführt habe. Beim Gedanken daran kam Empörung in ihm auf, dass niemand Niccolini fortgeschickt hatte, der doch genau wusste, was sich im Raum nebenan abspielte.
Er löste die Hände voneinander, wählte die Nummer des Bereitschaftsraums und verlangte Vianello. Als der Ispettore an den Apparat kam, sagte Brunetti: »Ich denke, wir sollten uns die Wohnung noch einmal ansehen.«
»Jetzt?«, fragte ein hörbar unwilliger Vianello.
»Warum?«
»Es ist gleich sieben«, fing der Ispettore an. Überrascht sah Brunetti auf seine Uhr: tatsächlich. »Könnten wir das [108] nicht auf morgen verschieben?«, fragte Vianello und kam einer Antwort Brunettis zuvor: »Ich rufe diese Signora Giusti an und sage ihr Bescheid, dass wir kommen - für wann soll ich uns anmelden?«
Brunetti war drauf und dran, ihn zu fragen, ob er einen Vorschlag mache oder eine Anweisung erteile. Er sagte aber nur: »Zehn Uhr wäre in Ordnung.«
[109] 11
S ie nahmen die Nummer eins, setzten sich aber in die Kabine, wo Brunetti für Vianello die Berichte Rizzardis und der Spurensicherung zusammenfasste. Dann bemerkte er noch, Niccolini habe auf ihn den Eindruck eines Mannes gemacht, der etwas verschweige und sich nicht wohl dabei fühle.
Als das Boot an der Piazza vorbeifuhr, sah Brunetti hinüber und meinte: »Man wird die Pracht niemals leid, oder?« Und als habe der Ispettore es ihm während seiner Abwesenheit heimlich aus der Schreibtischschublade stibitzt, fragte er melancholisch: »Wo ist das Gestern geblieben? Was rast die Zeit doch dahin!«
»Wir sind zu Fuß gegangen«, sagte Vianello.
»Wie bitte?«
»Nicht wie im Film, wo man ins Auto steigt und mit Blaulicht und Sirene durch die Gegend rast. Wir sind zu Fuß hingegangen und wieder zurück. Das hat lange gedauert. Und die alte Nonne hat uns zwar nichts sagen wollen, aber damit hat sie sich nicht gerade beeilt. Wir sind nicht in New York, Guido«, sagte er lächelnd, zum Zeichen, wie ungeheuer froh er darüber war.
Wie zur Bekräftigung von Vianellos Stoßseufzer blitzte in den Fenstern der Gebäude auf der linken Kanalseite grelles Licht auf. Ihre Blicke folgten dem Leuchten und glitten über die Fassaden: Beige, Ocker, Schattierungen zwischen Gelb und Braun, Rosa; und dann die Fenster: hoch aufstrebend [110] und oben spitz zulaufend, drängten sie sich zwischen den Säulen durch, um desto mehr Licht hineinzulassen. Und knapp unter der Wasseroberfläche die mächtigen Steinquader, über denen die Stadt in den Himmel emporragte.
»Wir hätten uns von Foa chauffieren lassen sollen«, sagte Brunetti, noch immer fassungslos, wie schnell am Vortag die Zeit verflogen war. Getrieben von seiner Unruhe, stiegen sie bei San Silvestro aus und gingen zu Fuß weiter: Wären sie bei San Stae ausgestiegen, hätten sie auch nicht länger gebraucht, aber so bewegten sie sich wenigstens.
Unterwegs erklärte Brunetti, er wolle sich die Wohnung noch einmal ansehen. »Und mit der Nachbarin reden«, fügte er hinzu, während sie die Brücke hinter San Boldo hinuntergingen und die Calle del Tintor Richtung campo einschlugen.
Brunetti trug noch dasselbe Jackett wie in jener Nacht und nahm die Schlüssel aus der Tasche. Der größte der drei war für die Haustür, der nächste passte ins Schloss der Wohnungstür, die Vianello versiegelt hatte. Brunetti zog den Klebstreifen an einer Seite ab und machte die Tür auf.
Drinnen nahm er sich als Erstes die Umschläge vor, die er schon in jener Nacht gesehen hatte; sie waren alle - darunter ein Einschreiben - an Signora Giusti adressiert. Er steckte sie ein. In der nächsten halben Stunde fanden sie nicht mehr als in der Nacht zuvor, bis auf ein paar Belege für Rechnungen, die auf der Post eingezahlt worden waren, und die gesammelten Kontoauszüge der letzten fünf Jahre. Beim Durchblättern sah Brunetti nur das übliche Muster: Die Rente kam pünktlich jeden Monat, daneben jeweils ein zweiter Zahlungseingang, womöglich eine Witwenrente. Aus der geringen [111] Höhe ihrer Rente war ersichtlich, dass Signora Altavilla früh in Ruhestand gegangen war; der zweite Betrag war höher - insgesamt verfügte sie über ein monatliches Einkommen, von dem eine Alleinstehende recht bequem leben konnte. Dies umso mehr - denn
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