Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Spaziergang unternehmen, vielleicht in Gesellschaft seiner werten Gattin.
[136] 13
A m nächsten Morgen brachte Paola ihm Kaffee und den Gazzettino ans Bett - auch sie fand diese Zeitung in Papierform weniger giftig. Brunetti nippte an seiner Tasse und stellte sie auf den Nachttisch, um besser die Zeitung lesen zu können. Irgendwann in den letzten Jahren hatte man sich sogar beim Gazzettino dem Kostendruck gebeugt und das Großformat auf das mittlerweile von fast allen Zeitungen bevorzugte kleinere Format reduziert. So war sie im Bett zwar einfacher zu lesen, doch Brunetti fehlte etwas, wenn er nicht mehr wie früher die großformatige Zeitung nur mit ausgestreckten Armen lesen konnte - ebenso wie ihm die seit Jahrzehnten gewohnte Schriftart fehlte. Er dachte daran, wie oft seine Lektüre jener ausladenden Ausgabe ärgerliche Schubser und Kommentare der Leute provoziert hatte, die im Vaporetto neben ihm saßen. Und vielleicht fehlte ihm das, weil eben dieses Riesenformat das Lesen zu einer Art öffentlicher Handlung machte: unmöglich, sich damit nicht in den persönlichen Bereich anderer Leute zu drängen. Die neue Version hingegen war reine Privatsache.
Von Signora Altavillas Tod war in den Zeitungen kaum noch die Rede. Eine ältere Frau, die offenbar an Herzversagen gestorben war: Was hatte das in den Nachrichten zu suchen? Allenfalls konnte man noch ein wenig auf die Mitleidstube drücken und darauf hinweisen, dass sie Witwe gewesen war und einen Sohn und drei Enkelkinder zurückgelassen hatte. Er sah in den Traueranzeigen nach und fand [137] zwei, eine von ihrem Sohn und seiner Familie und eine von Alba Libera.
Er las noch ein paar Artikel, und als sein Interesse erschöpft war, stand er auf, rasierte sich, duschte und ging in die Küche, wo Paola, La Repubblica vor sich auf dem Küchentisch ausgebreitet, ihr Kinn in die Hände gestützt hatte und las.
Als sie ihn kommen hörte, sagte sie: »Ich habe die Prawda zwar nie lesen können, frage mich aber doch, ob nicht alle anderen Zeitungen bloß Spielarten von ihr sind.«
»Wahrscheinlich«, sagte er und ging zur Spüle, um die Espressomaschine neu zu füllen.
»Während meines Studiums in England«, fuhr sie fort, »habe ich mich an Zeitungen gewöhnt, die in einem Teil Nachrichten und in einem anderen Teil Kommentare gebracht haben.« Als sie sah, dass er ihr zuhörte, packte sie die Zeitung am unteren Ende und schüttelte sie wie eine vollgekrümelte Tischdecke. »Hier macht man diesen Unterschied nicht. Hier stehen überall nur Meinungsäußerungen.«
»Die andere ist auch nicht besser«, sagte er. »Und bedenke, was für einen guten Ruf La Repubblica genießt.«
Sie tat das achselzuckend ab und meinte aufrichtig enttäuscht: »Ich hätte von denen etwas Besseres erwartet.«
»Das ist töricht«, sagte Brunetti und stellte die Espressomaschine auf den Herd.
»Ich weiß, aber man darf ja wohl noch Hoffnung haben.« Sie faltete die Zeitung zusammen und sagte: »Der Topf steht in der Spüle«, womit sie es ihm überließ, die Milch für seinen Kaffee warm zu machen.
»Hast du irgendetwas über den Tod dieser Frau herausgefunden?«, [138] fragte sie, während der Kaffee hochzusprudeln begann.
»Rizzardi geht von einem Herzversagen als Todesursache aus«, sagte er und wusste genau, dass Paola auf seine Ausdrucksweise anspringen würde.
»Und La Repubblica genießt einen guten Ruf«, sagte sie.
»Was soll das heißen?«, fragte er, obwohl er die Antwort zu wissen glaubte.
»In der Logik spricht man im Falle eines solchen Trugschlusses von einem Autoritätsargument«, erklärte sie zu seiner Verblüffung. »Dass Rizzardi von einem Herzversagen ausgeht, hört sich aus deinem Mund nicht anders an, als wenn du sagst, das da sei eine gute Zeitung. Du berufst dich auf Autoritäten, aber du glaubst ihnen nicht.« Sie wartete vergeblich auf einen Kommentar von ihm und fuhr fort: »Etwas beunruhigt dich; ich vermute, es geht um den Tod dieser Frau, und das bedeutet, dass du Rizzardi nicht glaubst, oder eher, dass er noch jesuitischer argumentiert als sonst und du dir dessen bewusst bist.« Sie hielt ihm lächelnd ihre leere Tasse hin. »Genau das soll es heißen.«
»Verstehe«, sagte er und schenkte ihr und dann sich selbst Kaffee ein. Er nahm Milch und Zucker und setzte sich ihr gegenüber. Als sie ihn aufmunternd ansah, erklärte er: »An Hals und Schultern der Frau waren undeutliche Abdrücke zu erkennen.« Er streckte ihr zur Verdeutlichung seine
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