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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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konnte versuchen, Paola in ihrem Büro zu erreichen, nur dass sie selten ans Telefon ging: Ihre Studenten wussten, wo sie zu finden war, und Kollegen, die sie sprechen wollten, konnten die paar Meter zu ihrem Büro auch zu Fuß gehen.
    Er überlegte, ob er noch einmal zu Hause anrufen und doch noch eine Nachricht hinterlassen sollte, aber das würde auch nichts daran ändern, dass er wieder einmal nicht zum [194]  Mittagessen aufgetaucht war und vergessen hatte, wenigstens Bescheid zu sagen. Wenn die Kinder sich das erlauben würden, bekämen sie es noch tagelang zu hören.
    Sein Telefon läutete, und er meldete sich mit seinem Namen.
    »Hier spricht Maddalena Orsoni. Ich bin früher zurück als geplant.«
    Normalerweise hätte Brunetti darauf mit irgendeiner Floskel reagiert, etwa, dies sei doch hoffentlich nicht einem bedauerlichen Zwischenfall zuzuschreiben, aber Maddalena Orsoni schien ihm nicht die Frau zu sein, der man mit Gemeinplätzen oder Sentimentalitäten kommen konnte, also fragte er nur: »Können wir uns jetzt gleich treffen?«
    Ihm fiel auf, dass sie beide das eigentliche Thema unerwähnt ließen. Er war Staatsdiener und brauchte Informationen, und doch vermied er es instinktiv, am Telefon irgendwelche konkreten Fragen zu stellen. Wie leicht Venedig es einem machte, sich wie zufällig in einer calle zu begegnen und auf einen Plausch in eine Bar zu gehen.
    »Ja«, antwortete sie schließlich.
    »In einer Bar?«
    »Sicher.«
    »Ich weiß nicht, wo Sie gerade sind«, sagte er, »aber ich bin in der Nähe von San Lorenzo. Also sagen Sie mir, wo es Ihnen am besten passt. Ich komme dann dorthin.«
    Sie dachte kurz nach und sagte dann: »Am Ende der Barbaria delle Tole am Campo Santa Giustina gibt es eine Bar, an der Ecke links, wenn Sie von SS. Giovanni e Paolo kommen. In zehn Minuten kann ich dort sein.«
    »Also bis gleich«, sagte er und legte den Hörer auf.

[195]  19
    W as für ein seltsamer Treffpunkt. Konnte irgendein campo noch abgelegener sein als der Campo Santa Giustina? Nur wer zur Kirche San Francesco della Vigna oder zur Anlegestelle Celestia wollte, käme dort vorbei, oder jemand wie Brunetti, der oft aus reinem Vergnügen zu Fuß durch die Gassen streifte. Er erinnerte sich, dass er Vorjahren einmal auf der Suche nach einem Puppendoktor hier gewesen war. Chiaras Großeltern hatten ihr zu Weihnachten ein Mädchen mit Porzellankopf und Reifrock geschenkt, und die Puppe hatte ein Auge verloren. Brunetti wusste nicht mehr, ob sie das Auge wiedergefunden hatten, erinnerte sich aber noch genau an die schweigsame grauhaarige Frau, der die Puppenklinik gehörte und die fast so leidend ausgesehen hatte wie die Puppen in ihrem Schaufenster. Er war seither noch oft über den campo gegangen, hatte aber nie den kleinen Abstecher gemacht, um in dem Fenster nach neuen Patienten zu sehen.
    Nach kurzer Zeit war er da. Auf der anderen Seite des campo erkannte er das trübselige Schaufenster des Secondhand-Kleiderladens. Wie die meisten Italiener seiner Generation hatte er eine Abneigung gegen Kleidung aus zweiter Hand, oder genauer, gegen alles aus zweiter Hand, es sei denn, es ging um Gemälde oder Ähnliches. Aber wer mochte überhaupt, wenn nicht äußerste Not ihn trieb, etwas aus diesem Schaufenster haben wollen? Brunetti war zwar nie in Bulgarien gewesen, als dort noch die Kommunisten herrschten, [196]  glaubte aber, die Auslagen hätten dort auch nicht anders ausgesehen: ein verstaubtes Angebot, reizlos und grau, nach dem sich kein Mensch umdrehte.
    Er ging in die Bar. Eine dunkelhaarige Frau, zurzeit die einzige Kundin, saß an einem Tisch am Fenster. Er trat heran und fragte: »Signora Orsoni?«
    Sie blickte ausdruckslos auf und reichte ihm die Hand. »Guten Tag, Commissario«, sagte sie und wies auf den Platz ihr gegenüber.
    Er zog den Stuhl zurück und setzte sich. Bevor er etwas sagen konnte, kam der Barmann an ihren Tisch. Sie bestellten Kaffee, aber dann überlegte Brunetti es sich anders und verlangte ein Glas Weißwein und ein panino.
    Als der Mann gegangen war, musterten sie einander, beide in Lauerstellung, wer wohl zuerst das Wort ergriff. Brunetti sah eine Frau von Anfang fünfzig, mit hellen Augen, die sich von ihrem dunklen Haar und der olivfarbenen Haut abhoben. Ein paar graue Strähnen waren ihr offenbar gleichgültig, und auch die Krähenfüße um ihre Augen zeugten davon, dass ihr nichts daran lag, sich den Anschein von Jugend zu wahren.
    »Ich bin Maddalena Orsoni, Commissario.

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