Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers
Vielleicht unter starkem Druck …«
»Wenn ihm beispielsweise per Brief ein Ohr seiner Tochter geschickt wird?«
Das hatte er absichtlich gesagt. Er ärgerte sich über die Art, wie Mistretta die Geschichte erzählte: als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun. Dabei hatte er doch selbst zweihundertfünfzig Millionen beigesteuert. Nur wenn Susannas Name fiel, zeigte er Erregung. Doch jetzt zuckte Mistretta so heftig zusammen, dass die Bank, auf der sie beide saßen, spürbar wackelte.
»So was machen die?«
»Die machen noch ganz andere Sachen.«
Er hatte es geschafft, Mistretta aus der Ruhe zu bringen. Im fahlen Licht, das durch die beiden Glastüren nach draußen drang, sah er, dass der Doktor ein Taschentuch hervorholte und sich damit über die Stirn wischte. In diesen Spalt, der sich im Panzer von Carlo Mistretta gebildet hatte, musste er vordringen.
»Ich will offen mit Ihnen reden. Im Augenblick haben wir noch nicht die geringste Vorstellung von den Tätern oder dem Ort, an dem Susanna gefangen gehalten wird. Nicht mal eine Idee, obwohl wir den Helm und den Rucksack Ihrer Nichte gefunden haben. Wussten Sie davon?«
»Nein, das höre ich zum ersten Mal.«
Das Gespräch verstummte. Denn Montalbano erwartete eine Frage des Arztes. Eine selbstverständliche Frage, die jeder Mensch gestellt hätte. Doch Mistretta sagte nichts. So nahm der Commissario den Faden wieder auf.
»Wenn Ihr Bruder nicht die Initiative ergreift, könnte das von den Erpressern als mangelnde Kooperation ausgelegt werden.«
»Was könnte man denn tun?«
»Bringen Sie Ihren Bruder dazu, auf Antonio zuzugehen.«
»Das wird hart.«
»Sagen Sie ihm, dass sonst Sie diesen Schritt werden tun müssen. Oder kostet Sie das vielleicht auch zu viel Überwindung?«
»Ja, allerdings, für mich wäre das auch schwierig. Aber sicher nicht so schwierig wie für Salvatore.«
Steif stand er auf.
»Gehen wir wieder rein?«
»Ich bleibe gern noch an der frischen Luft.«
»Ich gehe dann mal. Ich schaue nach Giulia, und falls Salvatore wach ist, was ich bezweifle, erzähle ich ihm von unserem Gespräch. Sonst morgen früh. Gute Nacht.«
Montalbano hatte seine Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, als er schemenhaft sah, wie Dottor Mistretta den Salon verließ, in seinen Geländewagen stieg und losfuhr. Anscheinend schlief Salvatore, und der Doktor hatte nicht mit ihm sprechen können.
Montalbano stand auf und ging ins Haus. Fazio las Zeitung, Minutolo war in einen Roman versunken, der Beamte blätterte in einem Reisemagazin.
»Tut mir Leid, dass ich euren Lesezirkel störe«, sagte Montalbano.
Und dann, zu Minutolo:
»Ich muss mit dir sprechen.«
Sie gingen in eine Ecke des Raums. Der Commissario berichtete ihm alles, was er von Dottor Mistretta erfahren hatte.
Auf der Fahrt nach Marinella sah er auf die Uhr. Matre santa, so spät schon! Livia war bestimmt schon schlafen gegangen. Besser so, denn wenn sie aufgeblieben war, gab es todsicher das übliche Donnerwetter. Leise öffnete er die Tür. Im Haus war es dunkel, aber auf der Veranda brannte Licht. Livia saß draußen auf der Bank, sie hatte einen warmen Pullover angezogen, vor ihr stand ein halb volles Glas Wein.
Montalbano beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie.
»Bitte entschuldige.«
Sie erwiderte den Kuss. Der Commissario frohlockte innerlich, es würde keine Szene geben. Aber Livia wirkte traurig.
»Hast du den ganzen Abend auf mich gewartet?«
»Nein. Beba hat angerufen und erzählt, dass Mimì im Krankenhaus liegt. Ich habe ihn besucht.«
Zehn
Sofort nagte Eifersucht an ihm. Das war absurd, klar, aber er konnte nichts dagegen tun. War Livia etwa betrübt, weil Mimì in einem Krankenhausbett lag?
»Wie geht es ihm?«
»Zwei Rippen sind gebrochen. Morgen wird er entlassen. Er kann sich zu Hause auskurieren.«
»Hast du schon gegessen?«
»Ja, so lange konnte ich nicht warten«, sagte Livia und stand auf.
»Wo gehst du hin?«
»Ich wärme dir …«
»Lass nur. Ich hol mir was aus dem Kühlschrank.«
Er kam mit einem Teller voll grünen und schwarzen Oliven und Caciocavallo-Käse aus Ragusa zurück, in der anderen Hand ein Glas und eine Flasche Wein. Das Brot hatte er unter den Arm geklemmt. Er setzte sich. Livia sah aufs Meer hinaus.
»Ich muss immerzu an das entführte Mädchen denken«, sagte sie, ohne den Blick abzuwenden. »Insbesondere eine Sache, die du mir gesagt hast, als wir das erste Mal von der Entführung sprachen, geht mir nicht aus dem
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