Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
nicht, sondern starrte geradeaus und machte einen unnatürlich gefassten Eindruck. Pavarotti fand die Aura, die sie ausstrahlte, unheimlich. Eisig, unerbittlich, wie eine Rächerin.
Immer wieder hatte der Ehemann den Blick seiner Frau gesucht. Vergebens. Die Frau schaute über Pavarottis Schulter stur auf die Wand. Es war eindeutig, sie konnte nicht ertragen, dass ihr Mann neben ihr saß, während ihr kleiner Sohn verschwunden war.
Die Frau war bei ihrer Mutter gewesen, und der Mann hatte den Sonntag allein mit seinem Sohn im Garten verbracht. Das Grundstück war auf der dem Haus gegenüberliegenden Schmalseite nicht abgezäunt und ging dort allmählich in Hochwald über. Irgendwann am Nachmittag klingelte das Telefon, und der Vater, der mit einem Bier auf der Terrasse gesessen hatte, ging ins Haus. Mit Tränen in den Augen gab der Hüne zu Protokoll, sich noch in der Tür vergewissert zu haben, dass sich der Kleine in Sichtweite auf dem Rasen befand und mit seinem neuen Plastikauto spielte. Als der Mann nach zehn Minuten wieder herauskam, war der Junge verschwunden.
Die in Marsch gesetzten Suchmannschaften und die Hundestaffel, die schon relativ kurz nach der Vermisstenmeldung den gesamten Wald durchkämmten, kehrten ohne den geringsten Anhaltspunkt zurück. Auch vom Plastikspielzeug fehlte jede Spur.
Es gab keinerlei Hinweise auf einen Fremden. Katharinaberg war eine kleine, sehr abgelegene Gemeinde. Ein Fremder wäre zweifellos aufgefallen. Zumal der Junge an einem Sonntagnachmittag verschwunden war. Die Dorfbewohner waren nach dem Kirchgang zum Mittagessen zu Hause in den eigenen vier Wänden, saßen in ihren Gartenlauben oder standen am Zaun und tratschten. Trotzdem hatte niemand etwas gesehen oder gehört.
Pavarotti fragte sich zum hundertsten Mal, ob es richtig von ihm gewesen war, sich in den Vater des Jungen zu verbeißen, und ihn immer wieder zum Verhör zu holen. Der Mann hatte verzweifelt abgestritten, etwas mit dem Verschwinden seines Jungen zu tun zu haben. Dann wurde der Anrufer ermittelt. Der Vater hatte zum fraglichen Zeitpunkt wirklich telefoniert. Kurz vorher war der Junge noch von einer Nachbarin gesehen worden. Damit war der Mann weitgehend entlastet.
Und an diesem Punkt machte der Commissario einen riesengroßen Fehler. Pavarotti konnte sich noch gut erinnern, wie frustriert er gewesen war, dass er mit seinen Ermittlungen wieder von vorn beginnen musste. Außerdem hatte er keine Lust auf die frostige Atmosphäre in diesem Wohnzimmer in Katharinaberg gehabt. Deshalb ließ er den Mann einfach heimgehen und setzte die Mutter des Jungen nicht persönlich über die neue Lage in Kenntnis. Der Ehemann konnte ja wohl selbst über seine Entlastung berichten.
Auch heute noch, nach so vielen Jahren, krümmte sich Pavarotti innerlich, wenn er an seine geradezu frivolen Gedankengänge von damals dachte. Schon bei dieser ersten Unterredung, kurz nach dem Verschwinden des Jungen, hätte er die Gefahr wittern müssen, in der sich dieses Ehepaar befand.
Eine Woche nach dem Verschwinden des Jungen, als das Ehepaar nicht auf Anrufe reagierte und niemandem die Tür öffnete, fand eine Streife in dem Haus eine Tragödie vor. Der blonde Hüne lag mit dem Kopf in der Spüle, ein Fleischmesser ragte aus seinem Rücken. Das schmutzige Geschirr unter dem Körper war schwarz vor verkrustetem Blut. Überall krabbelten Fliegen herum. Nach dem Zustand der Leiche zu urteilen, war der Mann seit Tagen tot. Der Dorfpolizist aus dem größeren Nachbarort, der einen solchen Anblick nicht gewohnt war, übergab sich geräuschvoll auf der Terrasse. Direkt in das halb volle Bierglas des toten Vaters, aus dem dieser an dem verhängnisvollen Nachmittag getrunken hatte und das dort immer noch stand.
Als Pavarotti einige Stunden später in Katharinaberg eintraf, ahnte er bereits, was ihn erwartete. Im Kinderzimmer des Jungen fand er sie. Sie baumelte von der Decke. Den Kälberstrick hatte sie durch einen Haken an der Decke geschlungen, an dem vorher eine Lampe mit blauem Schirm und Schäfchenwolken-Aufdruck gehangen hatte. Die Lampe hatte sie sorgfältig auf das Kinderbettchen gelegt. Ihre Augen waren offen und anklagend auf Pavarotti geheftet. »Ich hab dir die Arbeit abnehmen müssen«, sagte dieser Blick.
Einen Abschiedsbrief hatte sie nicht hinterlassen. Das war auch gar nicht nötig. Es war klar, warum sie es getan hatte. In ihren Augen war ihr Mann der Schuldige. Und dadurch, dass er Pavarottis Hauptverdächtiger war,
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