Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
Aktenmappen hängen, die an drei Wänden hoch aufgestapelt waren.
Es waren viele Fälle, die ihn in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder nach Meran geführt hatten. Meistens waren es ermüdende Bagatellen gewesen, die auch hiesige Beamte hätten lösen können. Aber ein halbes Dutzend Fälle war zwischen den Aktendeckeln vergraben, bei denen er sich bis heute an fast jede Einzelheit erinnern konnte. Er hatte sie nicht lösen können. Diese Fälle spukten in seinem Hinterkopf herum, erhoben Anspruch auf ihn, auch nach so langer Zeit. Sie erinnerten ihn immer wieder daran, dass seine Fähigkeiten begrenzt waren. Mittlerweile zweifelte er sowieso daran, dass die Motive für seine Berufswahl die richtigen gewesen waren.
Geheimnisse aufdecken zu können, ein Gewirr von ineinander verstrickten, rätselhaften Vorfällen zu entschlüsseln, war für ihn das Entscheidende gewesen. Jeder Mord erschien ihm als eine Art Geheimcode, der ihn herausforderte, ihn zu knacken. Damals, beim Militärdienst, war er ein begabter Funker und Entschlüsselungsoffizier gewesen. Auch heute noch fühlte sich Pavarotti als eine Art Nachrichtenmann, der allein in einem dunklen Büro, nachts, beim Schein einer Glühbirne, einen codierten Funkspruch auffing.
Pavarotti ging es eigentlich nicht um Gerechtigkeit für die Opfer. Die hatten nichts mehr davon. Er spürte auch kein Jagdfieber, wie ein Hund, mit der Schnauze im Dreck. Und das Bedürfnis, die Menschheit vor gefährlichen Elementen zu schützen, fand er bei sich ziemlich unterentwickelt. Mit dem Drang, Rache zu üben, wollte er schon gar nichts zu tun haben. Fast alle seiner Kollegen im Polizeidienst hätten bei einem oder mehreren dieser Punkte die Hand gehoben. Das waren die gängigen Motive. Dass er selbst längst einen Ruf als kaltschnäuziger Hund weghatte, war Pavarotti klar. Wenn die wüssten. Pavarotti achtete peinlich darauf, alles, was ihn selbst betraf, unter Verschluss zu halten, und beschränkte sich auf rein sachbezogene Äußerungen zum jeweiligen Fall.
Das Schwierigste für ihn war immer der Kontakt mit den Angehörigen der Opfer, die seine Unfähigkeit, die richtigen Worte zu finden, als Feindseligkeit deuteten. Pavarotti war es mehrfach passiert, dass ihn ein Angehöriger plötzlich attackierte. Er hatte schon ein paarmal blaue Flecken, einmal sogar Kratzer im Gesicht, davongetragen. Aber das war nicht so schlimm wie der waidwunde Blick, mit dem ihn die Leute hinterher anschauten. Das Einzige, was ihm übrig blieb, war, ihnen aus den Augen zu gehen und den Fall zu lösen. Wenn er es bloß immer gekonnt hätte.
Pavarotti knipste das Licht aus, aber es half nichts. Das halbe Dutzend Akten, das ihn umtrieb, war immer noch da. Er wusste, dass er die Chance gehabt hätte, wenigstens einige dieser Fälle zum Abschluss zu bringen, wenn er bei Menschen einen besseren Instinkt hätte. Ganz sicher hätte er ein Unglück verhindern können, das eine Stelle in seinem Inneren seit fast fünfzehn Jahren wund rieb.
Pavarotti linste wieder hinüber zu den Aktenstapeln. Der Katharinaberg-Fall. Er wusste genau, wo die staubige Akte über die Kindesentführung lag. Erst als alles längst vorbei war, hatte Pavarotti verstanden, dass der Verlust eines Kindes seine Eltern innerlich auffraß. Ihre Seelen wurden in ein großes schwarzes Loch gesogen. Zurück blieb kein positives Gefühl mehr. Nichts und niemand anderes als das Kind, das nicht mehr da war, hatte noch eine Bedeutung.
Seither war er nie mehr in Katharinaberg gewesen. Katharinaberg war ein Ort im Nirgendwo. Das Dorf lag mitten in den Bergen der Texelgruppe, am Beginn des langen, schattigen Schnalstals, schon ziemlich weit oben auf dem Weg zum Eisjöchl. Paul hatte der Kleine geheißen. Heute wäre er ein junger Mann. Zweifelsohne war er aber bereits seit fünfzehn Jahren tot.
Die Mutter des Jungen hatte schon beim ersten Besuch der Polizei, ein paar Stunden nachdem ihr Mann den Dreijährigen als vermisst gemeldet hatte, ein auffälliges Verhalten an den Tag gelegt. Das betraf vor allem ihren Ehemann. Der war ein richtiger Hüne, breitschultrig, mit hellen Kräusellocken und Oberarmen, die sein kurzärmliges T-Shirt förmlich sprengten. Der Mann hatte mit mahlendem Kiefer neben der Frau auf der Couch gesessen. Er war am Ende gewesen, nur mit Mühe hatte er sich auf Pavarottis Fragen zum Ablauf des Tages konzentrieren können. Die Frau war so ziemlich das Gegenteil von ihrem Mann, schwarzhaarig, klein und dünn. Sie weinte
Weitere Kostenlose Bücher