Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
hatte der Commissario ihr eine offizielle Bestätigung für ihren Verdacht geliefert.
Pavarotti war davon überzeugt, dass irgendjemand über kurz oder lang durch Zufall auf ein kleines Skelett stoßen würde, vermutlich gar nicht so weit weg vom Zuhause des Jungen. Es musste ein Einheimischer gewesen sein, der immer noch frei herumlief. Pavarotti hatte auf ganzer Linie versagt, bei dem verschwundenen Kind und bei den Eltern.
Mühsam richtete er sich auf. Er durfte sich nicht so herunterziehen lassen. Es machte keinen Sinn, Dingen hinterherzugrübeln, die er nicht mehr ändern konnte. Er musste sich auf den derzeitigen Fall konzentrieren. Pavarotti packte sein Jackett und trat auf den nur spärlich beleuchteten Flur des Kommissariats hinaus.
SECHS
Freitag, 6. Mai
Pavarotti zückte ein überdimensionales Taschentuch und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. An diesem Morgen war es deutlich wärmer als in den vergangenen Tagen, und die Wärme erinnerte ihn bereits unangenehm an die hohen Temperaturen im Sommer, die nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. Er hatte schlecht geschlafen. Hoffentlich galt das auch für diesen dürren Schuster. Nach einer Nacht hinter Gittern dürfte diese halbe Portion wohl ausreichend weichgekocht sein, um den Mord zu gestehen.
Als er gerade aufstehen wollte, um Niedermeyer zum Verhör holen zu lassen, fiel ihm ein brandneuer Aktendeckel auf seinem Schreibtisch auf. Er schlug ihn auf – ein Vernehmungsprotokoll. Emmenegger hatte befehlsgemäß Louisa Felderer, die Witwe, befragt, und das Ergebnis bereits zu Papier gebracht.
Pavarotti zog überrascht die Augenbrauen hoch, dann seufzte er. Wenn der Sergente Emmenegger schon einmal so einen Jahrhunderteifer an den Tag legte, dann wäre es wohl nicht richtig von seinem Vorgesetzten, das Resultat einfach links liegen zu lassen. Pavarotti erinnerte sich vage an ein Führungsseminar, das Jahre zurücklag und bei dem er schlecht abgeschnitten hatte. Widerstrebend ließ er sich auf den Stuhl zurücksinken und vertiefte sich in den Text, der in italienischer Sprache verfasst war.
Das Italienisch war grauenvoll. Wahrscheinlich die Rache der gequälten Kreatur Emmenegger. Als dem Commissario das Protokoll der Befragung des kleinen Hochleitner auf den Tisch geflattert war, hatte er sich durch ein kaum verständliches Gemisch aus Deutsch und dem hiesigen Dialekt quälen müssen. Wutentbrannt hatte er Emmenegger in sein Büro zitiert, ihn nach allen Regeln der Kunst heruntergeputzt und die Order ausgegeben, dass zukünftig in Italienisch protokolliert würde. Mir fehlt die Zeit für semantische Ratespielchen, hatte er sarkastisch gesagt. Das hatte er jetzt davon.
Falls Pavarotti den Text richtig verstand, verfügte Louisa Felderer offenbar über ein solides Alibi. Am Mordabend hatte sie sich in der Nachtsauna der Therme Meran eine Auszeit von ihrem anstrengenden Alltag als Frau eines schwerreichen Geschäftsmannes gegönnt, und zwar in Begleitung einer Freundin. Bei der Freundin handelte es sich um eine gewisse Viola Matern, die Empfangsdame des Hotels Felderer. Pavarotti dachte an seine Begegnung mit diesem Mädel im Hotel Aurora und musste grinsen. Gleichzeitig war seine Aufmerksamkeit geweckt. Das Mädchen war als Angestellte von der Familie abhängig. Dem Alibi, das sie Louisa gegeben hatte, war deshalb nicht hundertprozentig zu trauen. Pavarotti griff nach einem Stift, um einen Vermerk für Emmenegger anzubringen, damit der das Alibi überprüfte, da merkte er, dass der Sergente das bereits getan hatte. Pavarotti war perplex. So viel Eigeninitiative hatte er bei Emmenegger überhaupt noch nicht erlebt. Er beugte sich noch einmal über den Bericht, um sich zu vergewissern, dass er keiner Täuschung aufsaß. Doch da stand es schwarz auf weiß: Der Sergente war am frühen Abend – nach Dienstschluss! – zur Therme gefahren, um die Angaben zu überprüfen. Der Commissario staunte. Was in aller Welt war mit Emmenegger los, regnete es bei ihm durchs Dach, oder war er etwa von seiner Gattin vor die Tür gesetzt worden?
Wie Emmenegger herausgefunden hatte, besaß Louisa als Stammkundin eine Dauerkarte in Form einer sogenannten Chipuhr, mit der sie sich ein- und ausloggen konnte, ohne sich an der Eingangspforte zu melden. Um genau neunzehn Uhr vierundzwanzig hatte ihre Chipuhr die dafür vorgesehene Lesefläche am Eingangsdrehkreuz passiert. Da war ihr Mann nach Aussage der Gerichtsmedizin noch am Leben gewesen. Außerdem war das ja
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