Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
einer
silbernen Schale mit kandierten Früchten bediente. Tron atmete
tief durch. Dann steckte er sich eine gezuckerte Kirsche in den
Mund und wandte sich wieder der Lektüre des Manuskripts zu.
Auf seine Konzentrationsfähigkeit hatte er sich immer
verlassen können.
Die Geschichte, die
ihm ein gewisser Arrigo Boito aus Mailand zugeschickt hatte, war
spannend und gut geschrieben — allerdings voller Wendungen im
Mailänder Dialekt. Was bei den dortigen Literaten der letzte
Schrei war. Scapigliati — die Zerzausten —
nannten sie sich. Und Manzoni gehörte für sie inzwischen
zum alten Eisen. Unglaublich! Tron schüttelte nachdenklich den
Kopf. Offenbar hatte er da etwas versäumt.
Wusste er denn
überhaupt, was die aufgeweckte Jugend heutzutage las? Was las
zum Beispiel dieser ...Nein! Tron hatte sich fest vorgenommen, den
Neffen der Principessa nicht zu erwähnen. Und gar nicht erst
an diesen lächerlichen Namen zu denken! Julien Sorelli! War das nicht affig?
Warum hieß er nicht einfach Giuliano? Aber Tron würde
sich lieber die Zunge abbeißen, als die Principessa nach ihm
zu fragen. Ob er sich schon gemeldet hatte?
Tron hob die Augen von
dem Manuskript, gähnte und sagte mit beiläufiger Stimme:
«Hat sich dein Neffe schon gemeldet? Der Jüngling mit
dem französischen Vornamen? Die Contessa erwähnte, dass
er Sonntagabend angekommen ist.»
Die Principessa sah
von ihren Akten auf. «Er heißt Julien Sorelli und ist
mit der Bahn gekommen. Von Mailand über
Verona.»
Tron gähnte zum
zweiten Mal. «Du hast nie erwähnt, dass du einen Neffen
in Paris hast.»
«Da gab es
nichts zu erwähnen. Wir haben uns nur ein einziges Mal
gesehen. Das war in Paris und ist mindestens zehn Jahre her. Ich
konnte mich kaum an ihn erinnern.»
«Und diese
Korrespondenz?»
«Äh, welche
Korrespondenz?»
Na bitte! Da hatte er
die Principessa kalt erwischt! «Die Contessa hat
erwähnt», sagte Tron, «dass Briefe zwischen Paris und Venedig hin-
und herfliegen. Und dass diesen Briefen Fotografien beigelegt
werden.»
Die Principessa
musterte Tron mit einem amüsierten Blick. «Hat sie mit
einem gewissen Unterton darüber gesprochen?»
Das hatte sie in der
Tat. Tron schüttelte den Kopf. «Wenn sie das getan hat,
dann ist es mir nicht aufgefallen.»
«Dann hast du
ihre eigentliche Botschaft verpasst.»
«Welche
Botschaft?»
Die Principessa sah
Tron mitleidig an. «Du kennst doch deine Mutter. Sie
möchte, dass wir endlich heiraten.»
«Ich kann dir
nicht ganz folgen, Maria.»
«Es ist ganz
einfach, Tron. Wenn du eifersüchtig bist, denkt sie, machst du
mir endlich einen ernsthaften Antrag.»
«Wie? Um zu
verhindern, dass mir jemand zuvorkommt? Mir jemand die Beute
wegschnappt?» Tron lachte. «Das ist doch absurd. Wann
wirst du ihn sehen?»
«Julien hat mir
gestern ein Billett aus dem Palazzo Cavalli geschickt», sagte
die Principessa. Sie griff nach dem Etui, in dem sie ihre Maria
Maticini aufbewahrte. «Wie es
scheint», fuhr sie fort, «hat ihn der Comte de Chambord
sofort mit Arbeit überhäuft. Aber er hofft, dass er bald
Zeit für einen Antrittsbesuch hat.»
«Dem du
erwartungsvoll entgegensiehst?»
«Dem ich mit
einem gewissen Interesse entgegensehe», bestätigte die
Principessa. «Immerhin ist Julien der neue
Privatsekretär des Comtes de Chambord.»
«Seit wann
interessierst du dich für Chambord?»
Die Principessa
entzündete ihre Zigarette, inhalierte tief und blies einen
perfekten Rauchring über den Tisch. «Ich gehöre
nicht zu denjenigen», sagte sie nachdenklich, «die den
Comte bereits abgeschrieben haben. Napoleon sitzt nicht ganz so fest im
Sattel, wie viele meinen. Falls es nach dem Sturz des Kaisers keine
Rückkehr zur Republik gibt, könnte der Comte de Chambord
der Mann der Stunde sein. Wenn Julien dann immer noch sein
Sekretär ist, würde es meinen Geschäften nicht
schaden.» Die Principessa bedachte Tron mit einem
missbilligenden Blick. «Und dir würde es nicht schaden,
über andere Dinge nachzudenken. Offenbar war bei dir in den
letzten Tagen nicht viel los.»
Tron lächelte.
«Wenn man von dem Mordversuch absieht, der gestern auf der
Questura stattfand, war allerdings nicht viel
los.»
Die Principessa
kräuselte die Stirn. «Ein Mordversuch? Was ist
passiert?»
Na, bitte. Endlich
hatte er ihre Aufmerksamkeit. «Ein Österreicher»,
sagte Tron, «ist gestern vor dem Quadri über einen Mann
aus Cannaregio hergefallen, weil der eine Trikolore im Knopfloch
trug. Wir haben beide
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