Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
Molo angekommen,
sprang er auf den Steg und vertäute die Gondel. Dann trat er
neben den felze, um der Dame beim Ausstieg
behilflich zu sein und bei dieser Gelegenheit noch einen zweiten
Blick auf ihr Dekollete zu werfen. Außerdem war er neugierig,
wie gut es ihr gelungen war, ihr Äußeres
wiederherzustellen. Er vermutete, dass es auf dieser schwungvollen
Gondelfahrt ein wenig gelitten hatte. Aber wahrscheinlich, dachte
er, sah sie inzwischen wieder perfekt
aus.
Da es kein Holz gab,
an das er anklopfen konnte, räusperte er sich diskret und
rief: Siamo
arrivati, signorina. Was eigentlich
überflüssig war, denn es konnte ihr nicht entgangen sein,
dass sich die Gondel nicht mehr bewegte. Doch aus dem felze kam keine Antwort.
Offenbar war sie immer noch damit beschäftigt, sich zu putzen,
und hatte ihn nicht gehört. Zuanne Nono räusperte sich
ein zweites Mal und rief, diesmal ein wenig lauter: Siamo arrivati,
signorina.
Wieder antwortete sie
nicht, was nur bedeuten konnte, dass sie eingeschlafen war. Also
blieb ihm nichts anderes übrig, als den Vorhang des felze zu öffnen, seine
Ansage zu wiederholen und die Dame notfalls wach zu rütteln.
Sie anzufassen !
Eine verlockende Vorstellung. Das würde einen längeren
Blick auf ihr Dekollete gestatten — ganz aus der Nähe.
Vielleicht war ja der Ausschnitt ein klein wenig verrutscht. Zuanne
Nono gluckste vor Vergnügen. Zum zweiten Mal an diesem Abend
stellte er fest, wie sehr er seinen Beruf liebte.
Er schlug den Vorhang
zurück, steckte den Kopf in den felze - und hätte fast einen Schrei
ausgestoßen. Die blonde Signorina lag vollständig
entkleidet auf den Polstern. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und
es bestand kein Zweifel daran, dass sie tot war. Er sah nach links
zu ihren Füßen, dann wieder nach rechts zu ihrem Kopf.
Dann hielt er inne. Sein Blick verharrte nicht länger als zwei
Sekunden, aber Zuanne Nono registrierte alles, bis zur kleinsten
Kleinigkeit.
Er sah den Knebel in
ihrem Mund und die Fessel an ihren Fußgelenken. Er sah die
Ströme aus geronnenem Blut, unter denen die Konturen ihres
Körpers fast verschwanden. Und er sah das glatte, schimmernde
Objekt, das in einer eigenen Blutlache auf dem Polster lag, so wie
in der Auslage einer Macelleria. Als er erkannte, worum es sich
handelte, wurde ihm schlecht. Er drehte sich schreiend um, machte
ein paar taumelnde Schritte in Richtung Molo und blieb stehen. Dann
lehnte er sich über die hölzerne Reling des Landungsstegs
und übergab sich.
9
Tron, in kordelgegürteter
Hausjacke aus rötlichem Samt, ließ das Manuskript, in
dem er gelesen hatte, auf die Knie sinken und warf einen
zärtlichen Blick auf den weißen Kachelofen in der Ecke
des Salons. Wie herrlich warm es doch im Palazzo Balbi-Valier immer
war! Dann warf er einen ebenso zärtlichen Blick auf die
Principessa, die auf der anderen Seite des kleinen Tischchens
zwischen ihnen auf ihrer Récamiere lag und ihre Akten
studierte. Das tat sie immer nach dem Abendessen, ebenso wie er
nach dem Abendessen die eingegangenen Manuskripte für
den Emporio
della Poesia prüfte. Im Grunde, dachte
Tron, führten sie inzwischen ein Leben wie ein altes Ehepaar.
Sie hatten ihre Rituale, ihre Gewohnheiten, Empfindlichkeiten und
Häkeleien. Daran, dass seine Mutter, die Contessa Tron,
Anstoß an ihrer Dauerverlobung nahm, waren sie inzwischen
gewöhnt. Erfreulicherweise gab es keine Verwandtschaft
aufseiten der Principessa. Die hätte wahrscheinlich ebenfalls
zur Heirat gedrängt.
Keine Verwandtschaft?
Nun, das stimmte nicht ganz. Immerhin gab es da diesen ... Nein!
Schluss damit! Tron war entschlossen, Charakterstärke zu
zeigen und heute Abend keinen Gedanken mehr an den Neffen der
Principessa zu verschwenden. Den die Contessa als intelligent und gut
aussehend beschrieben hatte. Was zweifellos
völlig übertrieben war. Oder entsprach es womöglich
der Wahrheit? Ob er die Principessa bitten sollte, auch ihm das
Bild ihres Neffen zu zeigen? Dann würde sich zumindest
klären lassen, ob dieser Neffe tatsächlich ... Himmel,
warum konnte er nicht aufhören, an diesen intelligenten und
gutaussehenden Neffen zu denken?
Die Principessa trug
ihr bequemes Hauskleid aus schwarzer Kaschmirwolle. Auf der Nase
hatte sie einen Kneifer, in der rechten Hand ihren Rotstift, mit
dem sie hin und wieder eine Bemerkung an den Rand der Akten
schrieb. Wie üblich hielt sie sich nach dem Abendessen an
Kaffee und Zigaretten schadlos, während er sich aus
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