Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
Tron fand, er
sah aus, als hätte er sich gerade übergeben.
«Ich glaube
nicht», fuhr der Ispettore fort, «dass er noch lange
braucht. Wenn er fertig ist, kann ich die Lampen wieder
abbauen.»
Tron sah sich um.
Außer Bossi war auf dem Steg niemand zu sehen. «Wo ist
der Gondoliere?»
«Auf der Wache
an der Piazza», sagte Bossi. «Wir können
anschließend mit ihm reden. Er stand vollkommen unter
Schock.»
«Ist es so
schlimm?»
Bossis grünlich
angehauchtes Gesicht verzog sich zu einem humorlosen Lächeln.
«Am besten, Sie machen sich selber ein Bild,
Commissario.»
Der Ispettore wedelte
mit der Hand in Richtung der Gondel. Er schien aber nicht die
Absicht zu haben, sich vom Fleck zu rühren, sodass Tron sich
allein auf den Weg machte.
Er stellte fest, dass
sich seine Aufregung und seine Neugierde in Grenzen hielten. Und
dass er unpassenderweise an die leckere mousse au chocolat der Principessa denken
musste, während er ans Ende des Steges lief. War das die
professionelle Einstellung eines Polizisten, der nur dann effizient
arbeiten konnte, wenn er die Dinge nicht allzu nahe an sich
herankommen ließ? Oder war es ein Indiz dafür, dass er
sich aus dem kriminalistischen Geschäft zurückziehen
sollte, weil ihm das nötige Engagement abhandengekommen war?
Tron wusste es nicht, aber jetzt war mit Sicherheit der falsche
Moment, darüber nachzudenken. Dann fiel ihm Spaur ein und
dieser lächerliche Wettbewerb zum Polizeipräsidenten des
Jahres. Mit
diesem Verbrechen war Venedigs Vorsprung empfindlich geschrumpft.
Noch ein Mord, und sie lagen gleichauf mit Graz. Oder war es
Klagenfurt? Ach, egal.
Dr. Lionardo drehte
sich um, als er Trons Schritte auf dem Steg hörte. Von der
bizarren Fröhlichkeit, mit welcher der dottore gewöhnlich seine Arbeit am
Tatort verrichtete, war nichts zu spüren, als er zur Seite
trat, um den Commissario einen Blick auf die Leiche werfen zu
lassen.
Eigentlich, dachte
Tron, hätte er bei dem Anblick, der sich ihm bot, schockiert
sein müssen, aber er war es nicht. Bossis Petroleumlampen
tauchten den Tatort in eine Art Bühnenlicht, in dem alles
künstlich und wie gemalt erschien — ein brutales,
zugleich aber mit raffiniertem Farbsinn arrangiertes Gemälde.
Der grüne Samt der Polster und das schwarze Tuch des felze gaben einen
wirkungsvollen Hintergrund für das bleiche Inkarnat des
Frauenkörpers ab.
Sie lag mit
angezogenen Beinen auf dem Rücken. Den Kopf hatte sie an die
linke Armlehne sinken lassen, beide Augen waren geschlossen. Ihre
Haltung ließ Tron an schlafende Passagiere in Eisenbahncoupes
denken, nur dass diese in der Regel nicht unbekleidet waren und man
ihnen auch nicht den Bauch aufgeschlitzt hatte. Das Blut aus der
Wunde war auf ihre Oberschenkel geflossen und von dort auf den
Boden getropft. Den bläulich gefärbten Ring, der den Hals
der Frau wie ein Band umschloss, las Tron als Indiz dafür,
dass der Mörder nicht seine Hände, sondern ein schmales
Tuch oder einen Riemen benutzt hatte, um sein Opfer zu
erwürgen. Als Tron sich bückte, sah er rötliche
Ringe an den Hand- und Fußgelenken der Leiche. Der
Mörder schien sein Opfer gefesselt zu haben, wobei sich
allerdings die Frage stellte, warum er es für nötig
gehalten hatte, einer erwürgten Frau Fesseln anzulegen. Und
was war mit der formlosen, dunkelbraun glänzenden Masse, die
neben ihren Hüften auf dem Polster lag und unwillkürlich
an die Auslage einer Macelleria erinnerte? Trons Verstand weigerte
sich, eine Verbindung zwischen dem glänzenden Objekt und dem
Schnitt auf dem Bauch des Opfers herzustellen, obwohl der Schluss
auf der Hand lag. Tron schluckte und drehte den Kopf über
seine Schulter. «Was ist das da?»
Dr. Lionardos Gesicht
war ohne jeden Ausdruck. «Das ist ihre Leber. Er hat das
Organ ziemlich professionell entfernt und anschließend auf
dem Polster deponiert.» Der dottore zog ein kleines,
braungefärbtes Apothekenglas aus der Tasche seines Gehrockes
und entfernte den Korkstöpsel. «Das fand sich auf der
Schulter der Frau. Riechen Sie mal.»
Tron nahm das Glas und
hielt die Öffnung unter die Nase. Der Inhalt roch scharf und
erinnerte zugleich an den Geruch von Veilchen. Tron verzog das
Gesicht und sah Dr. Lionardo an.
Der dottore lächelte
flüchtig. «Keine Sorge, Commissario. Das Zeug ist nicht
giftig. Im Gegenteil.»
«Was ist
das?»
«Parfümiertes
Ammoniumcarbonat, das in feuchter Umgebung Ammoniak freisetzt.
Ammoniak bewirkt einen verstärkten Atemreflex in Nase
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