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Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Titel: Commissario Tron 5: Requiem am Rialto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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den
Tischen, die die Tanzfläche säumten, oder schob sich
langsam in Richtung Tresen. Es fiel ihm auf, dass es kaum jemanden
gab, der nicht rauchte. Die Herren hatten entweder eine Zigarette
oder eine Zigarre zwischen den Fingern, und der Qualm waberte
lustlos wie eine zweite Decke über den Köpfen. Die
richtige Stimmung, das wusste er aus Erfahrung, würde sich
erst einstellen, wenn das Publikum aus dem Teatro Fenice und den
anderen Theatern auf die Straße strömte, wild
entschlossen, sich den Rest der Nacht ins Vergnügen zu
stürzen.
    Und er selbst? War er
bereit? Und wenn - wozu ? Jedenfalls war er auf alles
vorbereitet. Das Messer und die Lederschlinge hatte er eingesteckt.
Nicht dass er es unbedingt darauf angelegt hatte, heute Abend
zu operieren. Er fühlte sich
noch etwas erschöpft von seinem letzten Einsatz. Das Rudolfe
hatte er nur betreten, weil es auf dem Weg lag und nicht, weil ihm
der Sinn nach blutigen Abenteuern
stand.     
    Jetzt war der langsame
Walzer zu Ende. Die Paare auf der Tanzfläche lösten sich
auf, gruppierten sich neu oder gingen zu den Tischen zurück.
Vier befrackte Herren, jeder von ihnen eine Signorina am Arm,
steuerten lachend den Ausschank an, was die blonde Frau
veranlasste, sich mit ihrem Glas an das Ende des Tresens zu
begeben. Dort, nur ein paar Schritte von ihm entfernt, blieb sie
stehen, drehte den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Doch anstatt
ihren Blick
wieder von ihm abzuwenden, wie er es erwartet hatte, musterte sie
ihn ein paar Sekunden lang. Dann nickte sie ihm zu und hob
grüßend ihr Glas, was er nur als Aufforderung verstehen
konnte, sich ihr zu nähern. Er deutete eine galante Verbeugung
an, hob ebenfalls sein Glas und setzte sich in Bewegung.
    Als er neben sie trat
und dabei den Mund unter der Halbmaske zu einem schüchternen
Lächeln verzog, erkannte er zweierlei: dass die Frau
grüne Augen hatte und dass es sich in Wahrheit um einen Mann
handelte. Woran genau er es erkannte, wusste er nicht,
vielleicht, dachte er, weil ihr Kinn, aus der Nähe betrachtet,
doch ein wenig zu kräftig war. Dann stellte er erschrocken
fest, dass es ihn nicht störte — und dass das Tier in
ihm in ein wildes Geheul ausgebrochen war.

36
    Als moderner
Kriminalbeamter glaubte Ispettor Bossi nicht an Zufälle.
Niemals hätte er, wie es seine Mutter regelmäßig
tat, ein Los der Lotteria Veneziana gekauft. Bossi glaubte
an Indizienketten, an Dampfmaschinen, Telegrafie und
Gasbeleuchtung.
    Der Commissario
hingegen glaubte an Zufälle — ein kontroverses Thema,
auf das sie immer wieder zurückkamen. Für ihn, Bossi,
hatte die Welt, obwohl die italienische Einheit immer noch auf sich
warten ließ, ihre rechte Ordnung. Und wenn diese Ordnung
gestört wurde, war es möglich, die Quelle der
Störung durch messerscharfe Indizienketten aufzufinden und zu
beseitigen. Für den Commissario hingegen war die Welt ein
undurchsichtiges, von Verbrechen und technischem
Fortschritt regiertes Chaos, die reinste Rumpelkammer, in der dann
auch der dumpfe, sinnlose Zufall eine wichtige Rolle spielen
konnte. Etwa ein Zusammentreffen Bossis mit dem Ausweider. Das hatte der
Commissario so direkt nicht ausgesprochen, aber er hatte es auch
nicht ausschließen wollen. Was selbstverständlich Unsinn
war. Da konnte er, dachte Bossi, sich gleich ein Los der Lotteria
Veneziana kaufen. Schon der Gedanke daran
war lächerlich.
    Außerdem gab es
im Augenblick ganz andere Dinge zu bedenken. Wie kam es zum
Beispiel, dass er sich in dem schwarzen Promenadenkleid so
pudelwohl fühlte? So weiblich ? Lag es daran, dass die blonde
Perücke so gut zum samtigen Schwarz des Kleides passte? Oder
daran, dass die Wattepolster an Brust und Hüfte sich so glatt
und ohne zu drücken an seinen Körper schmiegten, als
wären sie immer schon dort gewesen? Oder, überlegte er
weiter, dass sich hier ein lange unterdrücktes
Bedürfnis Bahn brach?
    Lediglich die Schuhe
hatten sich als gewöhnungsbedürftig erwiesen. Die hohen
Absätze nötigten ihn, mit der ganzen Sohle aufzutreten,
und zwangen ihn zu kleinen, femininen Schritten. Das war der
Weiblichkeit seiner Fortbewegung zwar förderlich, hemmte aber
seine Beweglichkeit, was sich in einem Handgemenge als fatal
erweisen konnte. Allerdings rechnete er nicht mit einem
Handgemenge.
    Dann war es
höchst merkwürdig gewesen, die Piazza San Marco zu
überqueren und alles mit den Augen einer Frau zu sehen.
Vermutlich tat man das automatisch, wenn man ein Kleid und hohe
Schuhe trug. Und

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