Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
wie in einem Ritual, entzündete er dort Kerze
um Kerze, sodass ein bernsteinfarbener Schein in der Dunkelheit
schwebte und den unteren Teil der pala in ein fahles Licht
tauchte.
Auf einen Wink von ihm
hatte sie vor dem Altar niedergekniet, um den ersten Teil ihres
Vertrags zu erfüllen. Ob sie laut beten sollte? Da sie sich nicht
sicher war, was er von ihr erwartete, beschloss sie, das Ave-Maria mit leiser Stimme zu
murmeln.
Ave Maria, gratia
plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in
mulieribus,
Sie hielt inne, um
einen Blick über die Schulter zu werfen. Als sie sah, dass der
Mann lächelnd auf sie herabblickte, fuhr sie
fort:
Et benedictus fructus ventris
tui, Jesus.
Sancta Maria, Mater Dei, ora
pro nobis peccatoribus,
nunc et in hora mortis
nostrae.
Wieder drehte sie den
Kopf und stellte fest, dass der Mann sie immer noch mit derselben
freundlichen Miene betrachtete. Doch einen Moment später fiel
das Lächeln auf seinem Gesicht so unvermittelt von ihm ab,
dass sie es fast wie ein Eiszapfen auf dem Boden zerschellen
hören konnte. Er beugte sich nach vorne, seine Händen
schossen auf sie herab und umklammerten ihren Hals. Als sie
begriff, was mit ihr geschah, versuchte sie zu schreien, aber es
war schon zu spät.
*
Es hätte nicht
viel gefehlt, und er wäre ebenfalls auf die Knie gesunken.
Neben ihr zu sein, zu wissen, was gleich mit ihr geschehen
würde, und dabei in ihr Ave-Maria einzustimmen,
wäre ein reizvoller Akt der Blasphemie gewesen. Andererseits
hatte sich das Tier in ihm gemeldet — wobei gemeldet untertrieben war, denn
in dem Moment, in dem die ersten Verse des Ave-Maria über ihre Lippen
gekommen waren, hatte es ihn kreischend aufgefordert, zur Tat zu
schreiten. Und da nichts dagegen sprach, die Angelegenheit ein
wenig zu beschleunigen, hatte er den Augenblick benutzt, in dem sie
sich umdrehte und ihn anblickte. Offenbar um festzustellen, ob sie
den ersten Teil ihrer Abmachung zu seiner Zufriedenheit
erfüllt hatte. Ja, das hatte sie. Dass er auf den zweiten Teil
der Abmachung — das gemütliche Zusammensein im Hotel
— verzichten würde, wusste sie noch nicht. Aber er
bezweifelte, dass sie sich darüber gefreut
hätte.
*
Im Nachhinein
betrachtet, war es natürlich ein Fehler gewesen, dass er sie
nicht attackiert hatte, als sie ihm noch betend den Rücken
zukehrte. Aber so stießen seine Hände von vorne auf ihren
Hals herab. Das war vorteilhaft, weil er auf diese Weise die Kraft
und den Druck seiner Daumen auf ihrer Kehle nutzen konnte. Es war
jedoch auch riskant, weil ein frontaler Angriff ihr die Gelegenheit
gab, zu reagieren. Und genau das geschah jetzt.
Er hatte vorgehabt,
sich auf sie zu stürzen, ihren Körper mit seinem Gewicht
auf den roten Teppich vor dem Altar zu stoßen und dabei seine
Daumen so lange wie nötig auf ihrer Kehle zu lassen. Doch
anstatt nach hinten zu fallen, gelang es ihr, sich im Fall zur
Seite zu drehen und ihm zwei Finger in sein linkes Auge zu
stoßen. Der Schmerz war unerträglich, aber noch
unerträglicher war der Schrei, den sie ausstieß, nachdem
er seine Hände von ihrem Hals lassen musste. Es war der
lauteste Schrei, den er je gehört hatte, schrill und
durchdringend, er zerschnitt die Stille des Kirchenraums wie ein
Messer. Ein Fausthieb schleuderte ihren Kopf gegen die Altarstufen
und brachte sie zum Schweigen. Gütiger Himmel! Hatte jemand
dieses Gekreische gehört? Diese unwürdige Schreierei vor
dem Altar des Herrn? Er erhob sich und lauschte angestrengt in die
Dunkelheit. Hörte er klappende Türen, das Geräusch
herbeieilender Schritte? Nein, es war absolut still.
Als er sich umwandte
und auf sie herabblickte, atmete sie noch. Zwar schwach und
röchelnd, aber ihre Lungen saugten immer noch Luft ein und
stießen sie wieder aus. Das war gut so, denn er zog es vor,
die Operation an einem lebenden
Körper durchzuführen. Einen ansprechenden Anblick bot sie
allerdings nicht mehr. Die Wunde auf ihrer Stirn blutete stark, das
Blut war ihr über das linke Augenlid und die Wange bis auf den
Mund herabgeflossen.
Er kniete sich nieder
und riss ihren Mantel auf. Dann nahm er das Messer aus der Tasche
und zog die Klinge mit einer schnellen Handbewegung auf
Hüfthöhe durch ihr Kleid. Ein weiterer Schnitt legte
ihren Bauch frei. Voilà! Die Operation konnte beginnen. Dass
der Schnitt durch die Bauchdecke sie aus ihrer Ohnmacht erwachen
lassen würde, bezweifelte er. Wenn er von kundiger Hand
ausgeführt und mit einem
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