Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
extrem scharfen Messer vorgenommen
wurde, war solch ein Schnitt in der Regel schmerzlos. Das Brennen
der Wunde kam immer erst später, und sie würde tot sein,
bevor sie etwas spüren konnte. Selbstverständlich
würde er — so wie die Dinge lagen — das Organ auf dem Altar
deponieren.
Er räusperte
sich, als er die Klinge in fingerbreitem Abstand über ihren
Bauch führte, um die genaue Schnittlinie zu bestimmen. Dass er
vor dem ersten Einstich immer nervös war, irritierte ihn
nicht. Erfahrungsgemäß würde sich seine
Nervosität mit jedem weiteren Schnitt legen. Er setzte die
Spitze des Messers auf den Bauch und zog sie ein paar Zentimeter
über die Haut. Sofort sammelte sich rotes Blut in dem
Einschnitt - ein Anblick, der ihn jedes Mal aufs Neue
entzückte. Ein weiterer Schnitt verlängerte die Wunde,
und er sah, wie noch mehr Blut herausquoll. Als er die Klinge zum
dritten Mal ansetzte, diesmal, um sie mit kräftigem Druck
über die ganze Schnittlinie zu fuhren, hörte er
plötzlich, wie sich die Tür zur Sakristei
öffnete.
27
Hübsch, dachte
Tron, der es sich auf einer der roten Polsterbänke im
maurischen Salon des Café Florian bequem gemacht hatte. Die
Verse, einfache, sich in Paaren reimende Jamben, flossen anmutig
dahin, und er bezweifelte inzwischen, ob es wirklich eine gute Idee
wäre, das zweiseitige Gedicht auf eine Seite zu kürzen.
Andererseits hatte Spaur wieder eine Prosadichtung
angekündigt, die in der nächsten Ausgabe des Emporio della
Poesia mindestens zehn Seiten Platz
einnehmen würde. Die Novelle des Polizeipräsidenten
über einen alternden Schriftsteller, der sich in Venedig in
eine junge Polin verliebt und an der Cholera stirbt — eine
selten dämliche Geschichte —, war ein großer
Erfolg für Spaur gewesen, und Tron fragte sich, ob
...
«Commissario
?»
Tron hob erschrocken
den Kopf und griff automatisch nach der Meringue, die der Kellner
des Florian ihm eben serviert hatte; ein äußerst
leckeres Teilchen, bestrichen mit einer üppigen Schicht
Schokolade, die ihrerseits von einer Schicht mousse au chocolat gekrönt war.
Bossi hatte noch einen Satz hinterhergeschoben, von dem Tron nur
die Wörter Kirche, Messer und Altar registriert hatte.
Sein Verstand war immer noch bei dem Emporio.
Der Ispettore wirkte
ausgesprochen derangiert. Sein Gesicht war gerötet, und Tron
sah Schweißperlen auf seiner Stirn glänzen. Ob er Bossi
die Meringue empfehlen sollte? Mit zusätzlicher Schlagsahne?
Nein, lieber nicht. Der Ispettore sah nicht so aus, als würden
ihn jetzt Gebäckteilchen interessieren.
Tron setzte ein
beruhigendes Lächeln auf. «Was ist los,
Bossi?»
Nicht dass er es
wirklich wissen wollte. Eigentlich wollte er nur in aller Ruhe sein
Frühstück beenden, sich gegen zwölf gemütlich
in die Questura begeben, um das Verhör von Signor Zuckerkandl
mit einem Geständnis abzuschließen.
Bossi hatte Platz
genommen und dämpfte die Stimme. Von den Nachbartischen warf
man ihnen neugierige Blicke zu. «Er hat gestern Nacht wieder
zugeschlagen.»
Wie bitte? Das war ein
Satz, den Tron nicht verstand. Die einzige Person, die Bossi meinen
konnte, hatten sie gestern verhaftet. « Wer hat
zugeschlagen?»
«Der
Verrückte», sagte Bossi. «Diesmal in einer Kirche.
Direkt vor dem Altar.»
Tron legte die
Kuchengabel, mit der er den Rest der Meringue aufspießen
wollte, wieder auf den Teller zurück. Die mousse sah plötzlich grau und
unappetitlich aus — wie geronnenes Blut. Er räusperte
sich. «In welcher Kirche ist das passiert?»
«In San Giovanni
in Bragora», sagte Bossi. «Der Pfarrer war eben auf der
Questura. Er hat die Frau vor dem Altar gefunden. Neben ihr lag ein
scharfes Messer.» Der Ispettore holte tief Luft. «Ich
glaube, dass Zuckerkandl unschuldig ist und der Mann, den wir
suchen, noch frei herumläuft.»
Noch frei
herumläuft.
«Dann
könnte ...», fuhr Bossi fort, brach aber den Satz sofort
wieder ab. Es war klar, was er sagen wollte.
Tron nickte.
«Stumm hat am vorletzten Sonntag den Nachtzug von Verona nach
Venedig benutzt. Der Neffe der Principessa, Signor Sorelli, hat ihn
gesehen. Der Oberst war in Zivil.» Tron musste sofort an das
Gespräch mit Spaur denken, das ihm bevorstand. «Womit
wir vier Tote hätten», sagte er matt.
Bossi schüttelte
den Kopf. «Das stimmt nicht.»
«Die erste Tote
in der Gondel», sagte Tron. «Die zweite an den Zattere,
die dritte im Hotel. Und jetzt die vierte Tote in der
Kirche.» Er sah Bossi irritiert an.
« Was
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