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Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Titel: Commissario Tron 5: Requiem am Rialto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Dinge, die er
früher nie beachtet hatte - ein Sonnenuntergang, der Anblick
hastender Menschen auf der Straße, das Leuchten der
Gaslaternen —, prägten sich jetzt ein wie eine Serie von
glänzenden Kameen, in Bildern, die so klar waren, als
wären sie galvanisiert. Er hatte das Leben auf der Zunge
geschmeckt wie einen Schluck Wein direkt aus der
Flasche.   
    Trotzdem hatte es
fünf Jahre gedauert, bis er die nächste Operation vorgenommen hatte,
diesmal in Triest und ebenfalls in einer kalten Winternacht. Zwei
Jahre später hatte er in Wien operiert, auch wieder in der
Nähe des Michaelerplatzes, nur diesmal mit präzisen,
genau gesetzten Schnitten. Seine Technik hatte sich bereits
deutlich verbessert.
    Dann war eine
längere Pause eingetreten, bis er vor einer Woche dieser Frau
im Coupe begegnet war. Und leider sofort etwas unternehmen musste.
Nein — nicht leider, denn er hatte es genossen. Und er
hatte festgestellt, dass ein gewisser Reiz darin lag, die Operation
woanders als in einem billigen Stundenhotel durchzuführen.
Dass danach alles wie am Schnürchen gelaufen war, hatte ihn
nicht überrascht. Diese Stadt hatte etwas Inspirierendes, eine
ausgesprochen kreative Atmosphäre, die den Künstler in
ihm ansprach.
    «Signore?»
    Er schlug die Augen
auf, stand wieder auf der Piazza und hatte Holzkohlengeruch und
Parfumduft in der Nase.
    Die blonde Signorina
sah ihn besorgt an. «Ist alles in Ordnung,
Signore?»
    Er holte tief Luft und
senkte lächelnd den Kopf. Es war alles in schönster
Ordnung — zumal er gerade festgestellt hatte, dass er nicht
nur das Messer eingesteckt hatte. Dann erklärte er ihr, was er
von ihr wollte, und zog anschließend, um seine Worte zu
bekräftigen, den Schlüssel aus der Tasche.
    *
    Als sie ihn kommen
sah, war sie aus den Arkaden des Palazzo Ducale getreten und hatte
ihm den üblichen Blick zugeworfen. Sie hatte ihre Augenbrauen
emporgezogen und ein Lächeln angedeutet.
Erwartungsgemäß war er stehengeblieben und hatte sie
ebenfalls betrachtet - ein Herr mittleren Alters, der einen Gehpelz
trug und einen schwarzen Zylinderhut auf dem Kopf hatte. Dass er
nicht maskiert war, beruhigte sie. Der Bursche, der seit ein paar
Tagen sein Unwesen in Venedig trieb, hatte, wenn man den
Gerüchten Glauben schenken konnte, immer eine schwarze
Halbmaske getragen.
    Ein wenig irritierend
fand sie, dass er in eine Art Trance verfallen war, nachdem er sie
betrachtet hatte. Er hatte zwei, drei Minuten lang die Augen
geschlossen und dazu die Lippen bewegt, wie in einem stummen Gebet.
Vermutlich war er ein wenig schüchtern. Also war sie auf ihn
zugetreten, und sie hatten sich schnell auf einen
großzügigen Pauschalpreis geeinigt.
    Das alles — und
auch, was der Mann nur im Flüsterton sprach — war ein
wenig seltsam, doch sie hatte nichts gegen Kunden, die ausgefallene
Wünsche äußerten. Gewöhnlich gehörten
solche Männer den gehobenen Kreisen an, zahlten gut und wurden
nie gewalttätig. Und wenn jemand Spaß daran hatte, sich
ein Hundehalsband anzulegen und zu bellen, wenn sie es miteinander
trieben - mein Gott, sollte er doch. Da gab es ganz andere Sachen,
die sie störten. Mundgeruch etwa. Auch dass der Mann keinen
hatte, sprach für ihn.
    Was er von ihr
verlangt hatte, bevor sie ins Hotel gehen würden, war
ausgesprochen harmlos. Zuerst hatte sie gedacht, er sei ein
Verrückter, der sie auf den Pfad der Tugend zurücklenken
wollte. Aber als sie ihn darauf ansprach, hatte er lächelnd
den Kopf geschüttelt. Offenbar ging es ihm nur um sein eigenes
Seelenheil.
    Zehn Minuten
später hatten sie die Riva degli Schiavoni verlassen und waren
in die kleine Gasse eingebogen, die direkt zu San Giovanni in
Bragora führte. Es traf sich gut, dass sich das Hotel, in das
sie sich nach dem Gebet begeben würden, in unmittelbarer
Nähe befand. Vermutlich, dachte sie, würde eine halbe
Stunde reichen, um ein paar Kerzen anzuzünden und ein Dutzend
Rosenkränze zu beten. Dass der anschließende Hotelbesuch
orgiastische Züge annehmen würde, erschien ihr
unwahrscheinlich. Es war leicht verdientes Geld. 
    Als sie den Campo
überquert hatten, schloss er das rechte der drei Kirchentore
geräuschlos auf, und sie traten ein. Innen schlug ihr ein
Dunst von Weihrauch und verwelkten Blumen entgegen. Sie hörte,
wie er in der Dunkelheit nach den Kerzen tastete, vernahm das
Anreißen des Streichholzes und sah, wie sich eine gelbliche
Blase unter seinen Händen entfaltete. Dann folgte sie ihm zum
Altar. Langsam,

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