Coole Geschichten für clevere Leser
das durchsprechen können? Harry braucht nichts davon zu wissen.«
»Ich?« fragte Marvin, und seine blassen Brillenaugen waren geweitet. »Ich soll zu dir kommen? Allein?«
»Warum nicht?« Roberta kicherte.
Er klingelte um neun Uhr – in seinem besten Anzug, rasiert, gepudert, das gelichtete Haar sorgfältig gekämmt. Etwa eine Stunde lang unterhielten sie sich über Geld, dann hatte Roberta das Thema satt und sprang auf seinen Schoß. Ihr Gewicht ließ ihn beinahe aus dem Sessel kippen, doch er spannte die Muskeln an und tat das Erwartete.
Im nächsten Monat hatte Harry immer öfter auswärts zu tun, und immer öfter ließ sich Marvin bei Harrys Frau blicken. Es dauerte nicht lange, da bekamen die Angestellten der Firma etwas mit, ja, bald schien halb Wilmington Bescheid zu wissen – bis auf den Gehörnten Harry Elton, wie es nun mal so ist.
An einem Freitagnachmittag saß er gerade im Hotel Americana in New York mit Joe Skelly von der Firma Sagameer-Stoffe zusammen, als ihm ein Telegramm übergeben wurde. Er las den Text und riß die Augen auf.
»Joe«, sagte er mit bebender Stimme. »Joe, hören Sie sich das an! ›Wenn Sie wissen wollen, wo Ihr Partner ist, sollten Sie feststellen, wo sich Ihre Frau befindet.‹ Unterschrift: ›Ein Freund‹.«
»Hmm«, sagte Joe Skelly. »Das muß ein Witz sein!«
»Glauben Sie das wirklich, Joe? Ich meine, mein alter Freund Marvin würde mir das doch nicht antun, oder?«
»Hmm«, machte Joe Skelly.
»Ich glaube, ich fahre mit dem Abendzug«, meinte Harry.
Als er den Bahnhof von Wilmington erreichte, wählte er seine eigene Nummer. »Roberta?« fragte er mit leiser Stimme. »Vielen Dank für das Telegramm. Wann erwartest du Marvin?«
»Um halb elf. Wann kommst du?«
»Eine halbe Stunde später.«
»Gott sei Dank, daß dann alles vorbei ist«, sagte Roberta.
Fünf Minuten vor elf Uhr öffnete er lautlos die Tür zu seinem dunklen Haus. Auf Zehenspitzen ging er durch den Flur zum Telefontisch und öffnete die Schublade. Unter dem Adreßbuch lag ein geladener Revolver. Er packte ihn entschlossen und erstieg die teppichbespannte Treppe.
Dann stieß er die Schlafzimmertür auf und knallte die linke Hand auf den Lichtschalter an der Wand.
»Harry!« kreischte seine Frau.
»Harry!« kreischte sein Partner.
Er feuerte aus unmittelbarer Nähe. Roberta war sofort tot. Marvin sprang aus dem Bett und begann die Hosen anzuziehen.
»Zieh nicht zuviel an«, sagte Harry. »Es muß richtig aussehen. Warte hier, ich rufe die Polizei an.«
»Harry«, sagte Marvin aufgekratzt. »Du hast dich wegen des Treuhandfonds geirrt. Der enthält nicht hunderttausend, sondern hundertfünfundsiebzig. Damit könnten wir eine ganz neue Fabrik bauen. Vielleicht in Philadelphia.«
»Nein, nicht in Philadelphia«, sagte Harry und schüttelte den Kopf. »Mir gefällt es hier in Wilmington.«
Triumphzug
Die Nachricht von der Kapitulation wirkte auf die Frauen von New York wie ein anregendes Getränk, und schon Tage vor dem Triumphzug waren zahlreiche Mädchen aus der zerstörten Fünften Avenue unterwegs und räumten die Trümmer von den breiten Straßen, energisch und kichernd-begeistert, als gelte es, eine Schlafsaalparty vorzubereiten.
Als der Morgen der Siegesparade heraufdämmerte, waren die Angestellten der Gotham Corporation in einem der wenigen verschont gebliebenen Bürogebäude an der 57. Straße vollzählig vertreten. Niemand hatte etwas dagegen, an diesem Tag zur Arbeit zu kommen, denn die neun Stockwerke der Firma boten einen Blick auf den Triumphzug, der in der Stadt seinesgleichen suchte. Die Mädchen trafen pünktlich um neun Uhr ein und drängten sich in aufgeregten kleinen Gruppen um die Schreibtische und bleigeschützten Wasserspender und Ersatz-Kaffee-Maschinen. Einziges Thema war die Parade, und niemand hatte etwas dagegen, nicht einmal die ewig ernsten Vorgesetzten.
Erstaunlich, wie attraktiv die Mädchen heute aussahen! Die besten Kleider waren aus den Verstecken geholt und zusammengenäht und geflickt worden, bis sie wieder durchaus präsentabel waren. Die wenigen Mädchen, die ihre Lippenstiftration aufgehoben hatten, reichten die kleinen matten Bleiröhren an die anderen weiter. Die rotbraunen Kügelchen aus farbigem Wachs mußten über einem brennenden Streichholz erhitzt werden, ehe man sie aufstreichen konnte, aber niemand klagte über diese Unbequemlichkeit. Sogar die strenge Mrs. Pritchard, die Aufseherin des Schreibzimmers, unterwarf ihre Lippen einer
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