Coole Geschichten für clevere Leser
Ehemann Werther. Der Artikel in der News beschrieb ihn als ›niedergeschlagen‹.
Als sich Werther am nächsten und übernächsten Tag nicht sehen ließ, begann sich Velvet Sorgen zu machen. Sie wollte ihn nicht zu Hause anrufen, vielleicht gab es dort noch Trauergäste, die fragend die Augenbrauen heben mochten. Als sie Ende der Woche noch immer ohne Nachricht von ihm war, beschloß sie einen Anruf zu riskieren. Ein Zimmermädchen meldete sich und sagte, er habe eine Besprechung, und Velvet legte auf, nervöser als zuvor.
Am gleichen Abend rief Werther an und lieferte ihr die Erklärung. Er hatte mit Vossberg konferiert, dem Mann, von dem Werther stets mit großer Bitterkeit sprach. Dabei ging es um Geld. Es gab Probleme mit dem Nachlaß, mit der gerichtlichen Abwicklung des Testaments, Fragen, auf die Werther keine Antworten bekommen konnte. Er schien sich Sorgen zu machen. Kein Wunder bei einem Mann, der einen mmmm begangen hatte.
Schließlich rief Werther an und kündigte an, daß er sie besuchen werde. Seine Stimme hörte sich seltsam an.
»Du hast so seltsam gesprochen«, begrüßte ihn Velvet. Dann blickte sie ihn an und fügte hinzu: »Du siehst auch ganz komisch aus.«
»Das liegt am Bart«, sagte Werther. »Ich habe ihn abrasiert. Die Haut darunter war bleich, der Rest des Gesichts gebräunt. Deshalb sehe ich komisch aus.« Er setzte sich schwerfällig auf das Sofa und starrte ins Leere.
»Wuschi, du bist in der Kommune doch nicht etwa rauschgiftsüchtig geworden?«
»Nein«, antwortete Werther kopfschüttelnd, eine Bewegung, die seine Augen nicht mitmachten.
»Was ist also los? Warum siehst du so komisch aus?«
»Ich habe sie glücklich gemacht«, sagte Wer- ther verträumt. »Ich habe genau das getan, was ich mir vorgenommen hatte, Vel. Ich machte Sylvia glücklich, ehe sie starb. Dann gab ich ihr die Pillen, und sie schlief ein. Sie lächelte! Ich schwöre, sie hat gelächelt, als man sie fand!«
»Bist du deshalb so komisch?« fragte Velvet.
»Nein«, sagte Werther und blickte auf seine eleganten Hände. Dabei fielen ihm die Falten auf dem Handrücken auf, wie Vogelspuren im Schnee. Dann wandte et sich an Velvet.
»Ich komme eben vom Rechtsanwalt«, sagte er. »Ich habe herausgefunden, was Sylvia nach der Rückkehr von der Reise getan hat. Sie hat ihr Testament geändert, Velvet.«
»Was?«
»Sie hat alles verschenkt. Ihr ganzes Geld. An die Wohlfahrt. Sie wollte arm sein, denn die Armut hatte ihr das Glück geschenkt.«
»Glück«, wiederholte Werther, und das Wort klang wie der Beginn eines Trauerlieds.
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