Cop
Maggie zählt oft. Wenn sie nicht zählt, drängen sich lauter schlimme Gedanken in ihren Kopf, und ihr wird schlecht. Manchmal hilft es, wenn sie liest, manchmal nicht. Zählen ist besser, das funktioniert immer. Sie zählt, bis ihr Kopf voller Zahlen ist. Am Anfang klappt es noch nicht so gut, weil die kleinen Zahlen zu einfach sind, da braucht sie sich nicht zu konzentrieren, und so können sich immer noch ein paar schlimme Gedanken dazwischenschmuggeln. Aber die hohen Zahlen, zum Beispiel zweitausenddreiundzwanzig, zweitausendvierundzwanzig, sind so groß, dass nichts anderes mehr Platz hat. Sie füllen den ganzen Kopf aus, alles in ihr wird still, und sie hat keine Angst mehr.
Schon bei dreihundertsiebzehn kommt Beatrice die Treppe herunter, um den leeren Teller vom Mittagessen zu holen. Er steht auf dem kleinen Klapptisch, an dem Maggie meistens isst. Manchmal setzt sich Borden zu ihr, dann reden sie über alles Mögliche, auch wenn sie sich hinterher kaum an die Gespräche erinnern kann. Und wenn sie ihm etwas von ihrem Essen geben will, schüttelt er immer den Kopf.
Dreihundertsieb…
Mit einem Knarren öffnet sich die Tür. Beatrice steht oben an der Treppe, ihr riesiger Schatten füllt den gesamten Türrahmen aus. Als sie den Schalter umlegt, leuchtet gelb die Glühbirne auf, die in der Mitte des Kellers von einem bräunlichen Kabel hängt. Blasses Licht vertreibt die Schatten. Maggie kneift die Augen zusammen und sieht zu, wie Beatrice die Treppe heruntersteigt: Sie stellt den rechten Fuß auf die erste Stufe, zieht den linken nach und atmet einen Moment durch. Dann setzt sie ihren Weg fort, wieder mit dem rechten Fuß voran.
»Wie geht es dir, Sarah?«, fragt sie, als sie unten angekommen ist.
»Ganz okay.«
»Gut.«
Maggie schweigt.
»Soll ich dir ein bisschen die Haare bürsten, bevor ich den Abwasch mache?«
»Nein.«
»Willst du mir die Haare bürsten?«
»Nein.«
»Geht’s dir auch wirklich gut?«
»Ja.«
»Du lügst mich doch nicht an, oder?«
»Nein.«
»Na gut.«
Beatrice geht zum Klapptisch und schnappt sich den leeren Teller. Er ist weiß mit blauen Blumenranken am Rand. Maggie hasst diesen Teller.
»Schön, dass du aufgegessen hast.«
»Ja, Ma’am. Danke für das Essen.«
»Ich wünschte mir, du würdest mich nicht immer Ma’am nennen.«
»Tut mir leid.«
»Ich wünschte mir, du würdest mich Mommy nennen.«
»Okay.«
»Das sagst du immer, und dann tust du’s doch nicht.«
»Tut mir leid.«
»Okay.«
Damit geht Beatrice zur Treppe zurück und schleppt sich wieder nach oben. Als sie die Hand schon an der Klinke hat, dreht sie sich noch einmal um.
»Zum Abendessen gibt’s Hackbraten. Mit schön viel geriebenen Karotten, genau wie du es magst.«
Beatrice schaltet das Licht aus, tritt in die Küche und zieht die Tür hinter sich zu. Aber Maggie hört kein Klicken des Schlosses. Sie hört auch nicht, wie der Riegel einrastet. Sie kauert auf der Matratze und lauscht in die Stille. Nichts.
Nach einer Weile steht sie auf und schleicht zum Fuß der Treppe. Sie schaut hinauf. Da oben, zwischen Tür und Wand, schimmert ein heller Spalt. Licht fällt auf die obersten Stufen; sie sind ausgetreten, abgeschliffen von den Schuhen, die so oft darüber hinweggeschlurft sind. Hier und da ragen rostige Nägel aus dem Holz.
»Borden«, sagt sie. »Borden, die Tür ist offen.«
Etwas in ihr wandelt sich. Die lange Sonnenfinsternis endet, das Licht kehrt in ihr Inneres zurück.
Noch bevor sie einen Entschluss fassen kann, noch bevor sich der Instinkt zu einer Handlung formt, spürt sie, wie ihr das Herz klopft bis zum Hals, wie ihr Mund schlagartig trocken wird. Ihre Hände ballen sich zu Fäusten und zerknittern das Kleid an ihrer Hüfte. Sie stellt erst einen nackten Fuß auf die unterste Stufe, dann den zweiten. Statt kühlem Beton spürt sie nun warmes, gemasertes Holz. Es fühlt sich gut an, irgendwie lebendig, als würde es zur Außenwelt gehören, nicht zu allem anderen hier unten.
Noch ein Schritt. Vorsichtig rollt sie den Fuß ab, verlagert das Gewicht auf die rechte Seite und drückt sich nach oben ab. Zum Glück ist sie leichter als Beatrice; bei der knarren die Stufen immer, Maggies Gewicht hingegen tragen sie schweigend. Bis auf das dumpfe Dröhnen des Fernsehers hinter der Wand und das rhythmische Pochen ihres Herzens in der Brust, den Ohren und ihren Schläfen ist es völlig still.
Der nächste Schritt – oh Gott, lass die Stufe bloß nicht knarren –, dann
Weitere Kostenlose Bücher