Copyworld: Roman (German Edition)
menschlichen Gefahrenquelle, aber es ist keine Tötung, sondern
die für Havariesituationen aller Art entwickelte Methode der
Extremdigitalisierung. Die Persönlichkeit des Betroffenen erhält sofort
reservierte Speicherplätze in Copyworld und existiert in einer präzis algorithmierten Realitätskopie weiter bis
an einen Punkt, der nach komplizierten Kriterien bestimmt wird und den Übergang
in eine Schopenhauerwelt kennzeichnet. Beryll Stein hat ihm alles erklärt. Es
war schlimm, kaum zu begreifen. Schlimm und großartig. Überhaupt war es ein Tag
von furchteinflößender Großartigkeit. Sein Konto ist gelöscht worden, aber
weiterhin reagieren alle Iris- und Papillarliniensensoren auf seine Wünsche,
sogar jene seltsamen salzigen kleinen Kügelchen, die auf dem Gaumen schmelzen
wie Eis, kann er über seinen Mio anfordern. Beinahe alles darf er tun fortan,
nur eines ist ihm strikt untersagt: Zu reden über all die wundervollen
Begebenheiten…
Wölkchen ächzt unmutig, weil er
immer noch an der Panoramawand seiner neuen Behausung steht und den ungewohnten
Anblick genießt, obwohl die Nacht schon einem schwachen Dämmerschein im Osten
zu weichen beginnt.
Wenige Stunden nur hatte
Hyazinth Direktkontakt zu Copyworld ,
aber erlebt hat er so viel, daß er Beryll Stein beinahe tätlich angegriffen
hätte, als der ihm erklärte, es sei nur intellektronische Simulation gewesen.
Alles, was er bisher von Copyworld gewußt und geglaubt hatte, war Kinderkram – die Wahrheit ist einfach
gigantisch. Alles, aber auch wirklich alles ist gerechtfertigt durch die
Einmaligkeit dieser Schöpfung. Ein neues Zeitalter ist angebrochen, und es ist
im Begriff, eine gänzlich neue Welt zu kreißen. Korunds letzte Prüfung hätte
durchaus strenger ausfallen können für einen, der maßgeblich mittun soll am
edlen Werk der Geburtshilfe, daran allein kann Hyazinth die Gnade ermessen, die ihm zuteil wurde, die
Gnade eines unermeßlichen Vertrauens.
Von nun an ist alles, was war,
endgültig Vergangenheit. Hatte Hyazinth sich eher instinktiv aus dem Panzer des Puppenkokons geschlängelt, sich
als schillernder Falter in die trügerischen Winde seines Schicksals zu erheben
geglaubt – nun weiß er es besser: Sein Imago gleicht keinem durstig von Blüte
zu Blüte taumelnden Schmetterling, es war keine niedrige Metamorphose vom Wurm
zum Flügelkerf, der Wasser und Feuer meiden muß, in der Kälte der Nacht zur
Leblosigkeit erstarrt und vor flirrender Hitze ins Schattengrau der
Gefahrlosigkeit flieht.
Vielmehr ist er schwanger mit
sich selbst gegangen, hat den Fötus seines wahren Ichs geduldig genährt und
einer Bestimmung entgegengetragen, die das Begriffsvermögen des längst
vergessenen alten Hyazinth weit übersteigt.
Noch ist die Nabelschnur nicht
zerschnitten: Sirrah, Jade, Rutila, Opal, Holunder, Marone – wie ein blutiger
Klumpen Mutterkuchen hängt das noch an ihm, fesselt seinen Geist mit lästigen
Erinnerungen an Liebe, Freundschaft, Achtung und auch Demütigung.
so empfingen vor alters das eine:
der himmel und wurde klar
die erde und wurde still
die geister und wurden
zaubermächtig
die täler und wurden erfüllt
die vielfalt der dinge und wurden
lebenskräftig
die fürsten und könige und wurden
richtmaß der welt
all das bewirkte das eine.
Hyazinth zerreißt mit einem
wilden Ruck seiner Gefühle die letzte Fessel, um dieses eine empfangen zu
dürfen.
Und er wird klar und still,
zaubermächtig und erfüllt, lebenskräftig und Richtmaß der Welt…
Dann preßt er die Stirn gegen das
Glas der Panoramawand und schluchzt leise auf, seine Tränen rinnen wie die
letzten Blutstropfen aus der endgültig gesprengten Nabelschnur.
Im Osten wächst dunkelrot der
Morgen über den Horizont, aus dessen bizarr zerklüfteter Linie die Nadel des
Kegelturms mit der glimmenden Spitze hervorsticht.
Hyazinth läßt sich zu Boden
sinken und rollt sich wie ein Tier zusammen. Aus brennenden Augen starrt er auf
die düsteren Konturen der Gebäude, über denen schon die ersten Giftschwaden der
Roten Wolke zu erkennen sind, halb im Schlaf flüstert er: “Frohe Umkehr,
Villafleur, Stadt meiner Kindheit… frohe Umkehr, Weltenstein, Stadt meiner
Ankunft… frohe Umkehr, Zirkonia, Welt meiner Macht…”
Menschenlos: Wer tiefer denkt,
weiß, daß er immer Unrecht hat,
er mag handeln und urteilen,
wie er will.
Friedrich
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