Coq 11
man ihnen Unrecht getan hatte? Wollten sie Gott dienen, indem sie ihre Feinde bekämpften? Oder, etwas edler, indem sie die Feinde des Islam bekämpften? Und ob sie etwa glaubten, dass Gott an einer solchen Einstellung Gefallen fände?
Nüchtern betrachtet blieb ihnen nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass es so war. Sie hatten sich gemeinsam einige Gedanken zum Dschihad gemacht, und wenn ihnen jemand anders als dieser ernste und gleichaltrige Imam die Fragen gestellt hätte, hätten sie sich vermutlich auf das dünne Eis begeben und sogar ihren Glauben beschrieben, der die meisten Engländer in Angst und Schrecken versetzte.
Doch hier taugte ihr religiöser Eifer nicht, nun mussten sie politisch und psychologisch argumentieren. Wenn man 9/11 mit der Explosion einer Atombombe vergleichen wolle, begann Ibra, dann habe man zunächst nur eine für alle wahrnehmbare Druckwelle gespürt. Inzwischen könne man die Langzeiteffekte beobachten: die verheerende Wirkung der freigesetzten Strahlung, die über große Entfernungen und einen langen Zeitraum alles und jeden töte.
Vor nicht allzu langer Zeit hätten die Gegensätze innerhalb der britischen Gesellschaft auf der Hautfarbe beruht. Nun komme es auf die Religion an. Jetzt hätten sich sogar die Sikhs, die Typen mit dem Turban, mit den Faschisten aus der Nationalen Front zusammengetan, um den bösen Islam zu bekämpfen. Und die einstigen Rassisten aus der Nationalen Front fänden das in Ordnung.
Man merke die Veränderungen, die Strahlung, auch im Kleinen, meinte Marw. Er und Ibra hätten in den letzten Jahren immer häufiger versteckte Andeutungen zu hören bekommen. Anfänglich seien es Witzeleien gewesen, später immer häufiger offen rassistische Kommentare hinzugekommen.
Und man müsse bedenken, dass es sich in ihrem Fall um hoch qualifizierte Arbeitsplätze handele. Sie seien extrem gut ausgebildet. Das Durchschnittsgehalt in der Firma läge, wenn man von den Sekretärinnen absah, bei dreihunderttausend Pfund.
Seit Londons 9/11, dem Anschlag vor zwei Wochen, sei es nahezu unerträglich geworden. Am liebsten hätten sie ihren Kollegen ins Gesicht geschrien, dass diese Schüler aus Leeds ihr Leben immerhin für eine Sache geopfert hatten, an die sie glaubten. Nicht aus kalkulierten politischen Gründen, nicht um sich zu bereichern, sondern einfach, weil sie die Schnauze voll hatten und verzweifelt waren. Sie hätten sich zur Wehr setzen und in diesem sogenannten Krieg gegen den Terror eine Gegenattacke starten wollen, und das würde, verdammt noch mal, Respekt verdienen. Allerdings wäre es äußerst unklug gewesen, diese Meinung laut zu äußern. Und nicht laut sagen zu können, was man denke, sei unerträglich.
So ging es eine Weile, anfangs eifrig und mit vielen, auch drastischen Worten, da sie beide es gewohnt waren, sich gewandt auszudrücken.
Der Imam hatte ihnen nur schweigend und ohne Anzeichen von Ungeduld gelauscht. Er hatte überhaupt keine Reaktion gezeigt, und das verunsicherte sie zunehmend und ließ sie schließlich ganz verstummen.
»Wollt ihr für das Seelenheil dieser Jugendlichen beten?«, fragte der Imam, als Marw und Ibra nichts mehr zu sagen hatten. Sie nickten zögerlich.
»Das könnt ihr natürlich tun. Gott ist barmherzig, er vergibt, und diese Gymnasiasten sind mehr aus Dummheit als für ihre hohen Prinzipien gestorben. Ihre Dummheit, die uns allen geschadet und die giftige Strahlung verstärkt hat, von der ihr gesprochen habt, diese Dummheit ist ihre einzige Entschuldigung. Aber ihr beide könnt euch nicht auf Dummheit berufen, von euch muss sich Gott viel mehr erwarten.
Du, Bruder Marw, wie du dich nennst, ich nehme an, du heißt Marwan, schlag die sechzigste Sure auf, al-Mumtahina, ›Die Geprüfte‹, und lies mir bitte den achten Vers vor.«
Langsam schob er den aufgestellten Koran zu Marwan hinüber, der eine ganze Weile nervös suchte, bis er die richtige Stelle gefunden hatte. Dann las er, etwas holprig zwar, aber dennoch verständlich – so hoffte er zumindest:
Nicht verbietet euch Allah gegen die, die nicht in Sachen des Glaubens gegen euch gestritten oder euch aus euern Häusern getrieben haben, gütig und gerecht zu sein. Siehe, Allah liebt die gerecht Handelnden.
»Nun, ziemlich gut gelesen, Marwan«, sagte der Imam und nickte bedächtig, als wolle er ihnen Zeit geben, die Worte auf sich wirken zu lassen. »Darf ich fragen, ob einer von euch zufällig Palästinenser ist?«
Beide streckten die
Weitere Kostenlose Bücher