Cora - MyLady 329 - Barbour, Anne - Die geheimnisvolle Schöne
sie kurz vor der Verlobung sitzen gelassen hatte. Indes glaubte Gillian nicht, dass ihm die Gefühle anderer Menschen wirklich wichtig waren.
Natürlich hatte er sich in Bezug auf das Tagebuch bewundernswert benommen. Sein Verhalten hatte ihn zwar nicht viel Mühe gekostet, doch die Entscheidung, Gillian in der Nacht ihres letzten unbefugten Eindringens auf das geheiligte Gelände des Magdalene College nicht dem Konstabler auszuliefern, und seine anschließenden Anstrengungen, ihrem Onkel Zugang zum Tagebuch zu ermöglichen, zeugten davon, dass er jemand war, der seinen Freunden half, wann immer er das konnte.
Wenngleich Gillian glaubte, die Ehe zwischen Miss Brant und dem Earl würde in einer Katastrophe enden, hatte sie doch das Gefühl, die fragliche junge Frau sei von Christopher auf sehr schnöde Weise im Stich gelassen worden.
Sie gestand sich jedoch ein, dass sie nicht das mindeste Recht hatte, über seine Angelegenheiten zu urteilen. Selbst wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre, hätte sie auf Grund ihrer Lebenseinstellung kaum mit dem Finger auf ihn zeigen oder ihn anschwärzen können. War sie nicht selbst eine Ziellose? Ihr Leben lang war sie den Eltern eine gehorsame Tochter gewesen. Mit achtzehn war sie Kenneth begegnet, und die Verbindung zwischen ihnen wurde allseits als unausweichlich betrachtet.
Er war jedoch in den Krieg gezogen und nicht zurückgekehrt. Und das war ihre Schuld. Sie rief sich zur Ordnung.
Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie hatte sich vom Leben abgewandt. Andere Männer waren gekommen, um Kenneths Platz einzunehmen, aber sie hatte nur höflich gelächelt und zugelassen, dass sie sich von ihr zurückzogen, wenn sie begriffen, dass es ihnen nicht gelang, ihr kaltes Herz aufzutauen.
Nicht, dass sie unglücklich war. Nachdem Onkel Henry und Tante Louisa, ihre Lieblingsverwandten, Unterstützung brauchten, auch wenn sie nicht viel für sie tun musste, war sie froh gewesen, dem Durcheinander entrinnen zu können, das sie verursacht hatte. Diesen Beschluss, zu ihnen zu ziehen, hatte sie nie bereut und sich im dem abgelegenen Dorf Great Shelford ein neues Leben geschaffen. Dieses Leben sagt mir zu, hielt sie sich nachdrücklich vor.
Obwohl die Ankunft des Earl of Cordray fraglos zu einem Umbruch geführt hatte, fand sie, dass sie hierher gehörte.
Hier würde sie bleiben oder in einen vergleichbaren Ort ziehen, wenn der Onkel und die Tante ihr Leben beschlossen hatten.
Den gleichen Spielraum konnte sie jedoch dem Earl nicht gestatten. Er war ein wichtiger Mann, der Pflichten und Aufgaben hatte. Es erschien ihr falsch, dass er sie nur für einen idyllischen Aufenthalt auf dem Land vernachlässigte.
Unbehaglich wurde sie sich bewusst, dass ein Teil von ihr gern angenommen hätte, es läge an ihrem betörenden Wesen, dass Lord Cordray sich veranlasst fühlte, hier zu bleiben. Aber sie war keine Circe, die Odysseus nötigte, seine Pflichten zu vergessen. Nein, sie befürchtete, der Earl sei einfach nur eine Lilie auf dem Feld des Lebens. Er säte nicht und erntete auch nicht, sondern überließ es anderen, das Chaos zu beheben, das er verursacht hatte.
Diese ziemlich betrübliche Einschätzung seines Charakters wurde eines Abends beim Dinner noch verstärkt. Er leistete ihnen wie gewöhnlich Gesellschaft, und wie üblich war die Unterhaltung sehr gelöst.
»Sagen Sie uns, Sir«, sagte Tante Louisa, »wie lange Sie noch in Wildehaven zu bleiben gedenken.«
Er warf einen ziemlich beschämten Blick auf Miss Tate, ehe er antwortete: »Das weiß ich wirklich nicht, Mrs.
Ferris. Ich hatte vor, nur einige Tage zu bleiben, doch nun genieße ich meinen Aufenthalt sehr. Ich weiß nicht, wann ich nach London zurückreisen werde.«
»Aber Ihre Angehörigen und Ihre Freunde werden Sie doch gewiss vermissen«, wandte Tante Louisa beharrlich ein. »Und was ist mit Ihren Verpflichtungen? Ein Mann Ihrer gesellschaftlichen Stellung muss doch bestimmt…«
Ungeduldig hob er die Hand. »Das ist eines der Vorrechte eines Mannes meiner gesellschaftlichen Stellung, Mrs.
Ferris. Man kann sehr viele Leute dafür bezahlen, dass sie einem diese Verpflichtungen abnehmen. Ich bin sicher, im Moment kommt man sehr gut ohne mich aus.«
Ihm war aufgefallen, dass sein Ton schärfer als beabsichtigt gewesen war, und angesichts Mrs. Ferris’ betretener Miene bekam er ein schlechtes Gewissen. »Aber Sie haben Recht, meine Teure«, fuhr er fort. »Es wird Zeit für mich, daran zu denken, zu meinen
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