Cora - MyLady 334 - Clay, Merilyn - Miss Tessa aus Amerika
den Blick ab. »Seit ich in England bin, konnte ich niemandem die Wahrheit anvertrauen, und ich habe mich so danach gesehnt.«
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben gelogen?« fragte er vorsichtig, erfreut über die Früchte seiner improvisierten Scharade.
»Nein. Es gibt nur Dinge…« Sie sah auf. Schmerz zeichnete sich auf ihrer Miene ab. »Ich muss gestehen, dass es mir schwer fällt, die ganze Wahrheit zu erzählen.«
»Soll ich anfangen?« bot er an. Ohne ihre Antwort abzuwarten, sagte er: »Die ganze Wahrheit, Miss Darby, ist die, dass ich von Ihnen völlig berückt war, als ich Sie heute Abend aus der Kutsche steigen sah. Ihr rotbraunes Haar, ihre saphirblauen Augen haben mich verzaubert. Ich wollte Ihnen folgen, hielt es jedoch für unklug. Stattdessen habe ich Sie aus der Ferne beobachtet. Beinahe hätte ich Lord Penwyck nach Ihrem Namen gefragt, doch nachdem er manchmal ein arger Musterknabe ist…« Er hielt inne, um ihre Reaktion abzuwarten.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie missbilligend die Lippen verzog. »Lord Penwyck ist kein Musterknabe«, erwiderte sie. »Er ist ein Gentleman, und daran finde ich nichts auszusetzen.«
»Haben Sie denn etwas an ihm auszusetzen?« erkundigte sich Penwyck kühn.
Zu seiner Überraschung sprang Miss Darby auf und flüchtete in die Schatten. Besorgt lief Penwyck ihr nach.
»Ich wollte Sie nicht aus der Fassung bringen«, sagte er hastig, als er sie weinen hörte. Ihm war elend zu Mute. Als er hinter ihr auftauchte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu ziehen. Verstört und verzweifelt, wie sie war, schmiegte sie sich an ihn. Er schloss die Arme fester um sie. »Warum weinen Sie, liebste Miss Darby?« fragte er heiser.
»Weil ich ihn… liebe«, bekannte sie leise. »Ich liebe ihn, aber er liebt mich nicht. Er findet mich nicht… sittsam genug.«
Penwyck schloss die Augen. Er hatte sie doch nicht verletzen wollen, als er ihr seine Hilfe in allen Fragen des guten Tons anbot. Anfangs hatte er eben gedacht, sie hätte es nötig… aber was zählte das? Er hatte ihr wehgetan und kam sich jetzt vor wie ein Schurke. »Bestimmt täuschen Sie sich«, sagte er sanft. »Sie sind eine wunderbare Frau.«
Mit einem verächtlichen Schniefen entzog sie sich ihm und ging zu der Bank zurück.
»Nein, das bin ich nicht. Ich mache skandalöse Sachen wie Zeitung lesen und zu radikalreformerischen Veranstaltungen gehen. Lord Penwyck war außer sich vor Zorn, als er mich von einer Veranstaltung retten musste, die in einen Krawall ausartete. Aber ich konnte doch nichts dafür!«
»Gewiss nicht«, sagte Penwyck, der sich wieder neben sie gesetzt hatte.
»Ich kann nicht schweigen, wenn ich Zustände sehe, die der Verbesserung bedürfen. Wussten Sie, dass Tausende von wehrlosen Frauen und Kindern in Englands Fabriken schuften müssen? Mr. Cobbett sagt, Englands industrielle Überlegenheit hänge von dreißigtausend kleinen Mädchen ab. Das ist doch entsetzlich!«
»Da stimme ich Ihnen zu, Miss Darby, es ist entsetzlich.«
»Ich wollte so gern einen Artikel für Mr. Cobbetts
,Political Register’ schreiben. Daraus wird nun nichts mehr. Stattdessen muss ich nach Amerika zurückkehren und einen Mann heiraten, den ich nicht liebe.«
Plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht und brach erneut in Tränen aus.
Penwyck wusste nicht, was er tun sollte. Es beglückte ihn, dass sie ihn liebte und nicht den Mann, den sie heiraten sollte, doch war ihm nicht klar, wie er sie trösten sollte, ohne sich zu verraten.
Da er es nicht ertrug, sie so unglücklich zu sehen, tätschelte er ihr mitfühlend die Schulter und reichte ihr ein Taschentuch. »Trocknen Sie doch Ihre Tränen, Miss Darby. Alles wird gut…«
»Nein, wird es nicht!« rief sie. »Nach Amerika zurückzukehren ist wie eine Rückkehr ins… Gefängnis.«
»Ins Gefängnis?« Besorgt runzelte Lord Penwyck die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
Sie tupfte sich die Nase ab. »Mein Stiefvater ist… ein böser Mensch.«
Am liebsten hätte er sie wieder in die Arme genommen, doch er fragte nur: »Wollen Sie damit sagen, dass er ihnen wehtut?«
Als sie nickte, knirschte er mit den Zähnen.
»Wie denn?« stieß er hervor. »Was hat er Ihnen angetan?«
Er wartete eine ganze Weile, während sie ihre Augen trocknete. Endlich sagte sie atemlos: »Er… hat mich in meinem Zimmer eingesperrt, und… und er hat mich wie einen Sklaven ausgepeitscht. Und als ich jünger war, hat er
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