Coraline
entschlossen drauflosrennt. Kleinere schwarze Ratten liefen ihr kreuz und quer über den Weg und versuchten, sie abzulenken, aber Coraline ignorierte sie alle und behielt unverwandt die Ratte mit der Murmel im Auge, die geradewegs aus der Wohnung lief, zur Haustür hin.
Sie kamen an der Treppe draußen am Haus an.
Coraline blieb gerade genug Zeit, um festzustellen, dass auch das Haus sich immer weiter veränderte. Noch während sie die Stufen hinunterstürmte, wurde es undeutlicher und flacher. Es erinnerte jetzt gar nicht mehr so sehr an ein Haus, sondern eher an die Fotografie eines Hauses. Doch dann raste sie einfach holterdiepolter die Treppe hinunter, immer hinter der Ratte her und fest davon überzeugt, dass sie aufholte, und in ihrem Kopf war für nichts anderes mehr Platz. Sie lief schnell – allzu schnell, wie sie feststellen musste, als sie an einem Treppenabsatz angelangt war und ihr Fuß ins Rutschen geriet und sich verdrehte und sie mit voller Wucht auf dem Beton landete.
Sie hatte sich das linke Knie aufgeschlagen, die Hand, mit der sie sich hatte abstützen wollen, war böse aufgeschürft und in der Haut steckten kleine Steinchen. Es tat ein bisschen weh und sie wusste, dass es schon bald sehr viel ärger wehtun würde. Sie klaubte sich die Steinchen aus der Handfläche und rappelte sich wieder auf, so schnell es nur ging. Obwohl sie wusste, dass sie verloren hatte und es bereits zu spät war, stieg sie zum letzten Treppenabsatz im Erdgeschoss hinunter.
Sie hielt nach der Ratte Ausschau, aber sie war verschwunden und mit ihr auch die Murmel.
Ihre aufgeschürfte Hand brannte und aus ihrem Knie lief Blut am Bein ihrer zerrissenen Schlafanzughose hinunter. Es war so schlimm wie in dem Sommer, als ihre Mutter die Stützräder von Coralines Fahrrad entfernt hatte, aber damals, in jener vergangenen Zeit, hatte sie bei all den Schrammen und Hautabschürfungen (auf ihrem Knie bildeten sich auf verkrusteten Wunden immer neue Krusten) das Gefühl gehabt, etwas geleistet zu haben. Sie lernte etwas, machte etwas, was sie bisher nicht gekonnt hatte. Jetzt empfand sie nichts als kaltes Versagen. Sie hatte die Geisterkinder im Stich gelassen. Sie hatte ihre Eltern im Stich gelassen. Sie hatte sich selbst im Stich gelassen, in allem versagt.
Sie schloss die Augen und wünschte sich, dass der Boden sich auftäte und sie verschlang.
Ein Hüsteln ertönte.
Sie machte die Augen auf und sah die Ratte. Sie lag auf dem mit Backsteinen befestigten Weg unten an der Treppe, mit einem verblüfften Ausdruck in ihrem Gesicht – das jetzt etliche Zentimeter von ihrem Rest entfernt war. Die Schnurrhaare waren steif, die Augen waren weit aufgerissen und man konnte die Zähne sehen, die gelb waren und scharf. Rings um den Hals glitzerte ein Kragen aus nassem Blut.
Neben der enthaupteten Ratte saß der schwarze Kater und schaute sehr selbstzufrieden drein. Er legte eine Pfote auf die graue Glasmurmel.
»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte der Kater, »habe ich einmal erwähnt, dass ich Ratten auch unter den günstigsten Umständen nicht leiden kann. Wie’s aussah, hast du diese Ratte hier aber dringend gebraucht. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, dass ich mich eingemischt habe.«
»Ich glaube«, sagte Coraline und rang japsend nach Luft, »ich glaube, du hast – so was Ähnliches – mal gesagt.«
Der Kater nahm die Pfote von der Murmel, die daraufhin zu Coraline hinrollte. Sie hob die Murmel auf. In ihrem Kopf begann eine letzte Stimme in dringlichem Tonfall zu flüstern.
»Sie hat dich angelogen. Jetzt, wo sie dich hat, wird sie dich nie mehr hergeben. Sie wird auch uns genauso wenig freilassen, wie sie ihr Wesen ändern wird.«
Coraline sträubten sich die Nackenhaare und sie wusste, dass die Stimme des Mädchens die Wahrheit sagte. Sie steckte die Murmel zu den anderen beiden in die Tasche ihres Morgenmantels.
Jetzt hatte sie alle drei Murmeln.
Sie musste nur noch ihre Eltern finden.
Und zu ihrer Verblüffung stellte Coraline fest, dass dieser Teil ihrer Aufgabe leicht war. Sie wusste ganz genau, wo ihre Eltern waren. Wenn sie nur einmal scharf nachgedacht hätte, wäre ihr das vielleicht schon die ganze Zeit klar gewesen. Die andere Mutter konnte nichts erschaffen. Sie konnte nur umwandeln und verzerren und verändern.
Der Kaminsims in der guten Stube zu Hause war ganz kahl. Aber mit diesem Wissen wusste sie auch noch etwas anderes.
»Die andere Mutter. Sie will ihr Versprechen nicht halten. Sie
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