Coraline
etwas Totes – und dann noch ein totes Insekt – eine Stimme haben?
Sie ging durch mehrere Zimmer mit niedrigen, schrägen Wänden, bis sie zum letzten Zimmer kam. Es war ein Schlafzimmer und der andere verrückte alte Herr von oben saß in der hintersten Ecke, fast im Dunkeln, mit dem Hut auf dem Kopf und in seinen Mantel gehüllt. Als Coraline hereinkam, fing er an zu sprechen.
»Nichts hat sich verändert, kleines Mädchen«, sagte er und seine Stimme klang wie das Geräusch, das dürre Blätter machen, wenn sie über den Bürgersteig rascheln. »Was wäre denn schon, wenn du alles so machen würdest, wie du’s geschworen hast? Was dann? Nichts hat sich verändert. Du würdest nach Hause gehen. Du würdest dich langweilen. Man würde dich nicht beachten. Niemand hört dir zu, hört dir richtig zu. Du bist zu klug und zu leise für sie; das können sie nicht verstehen. Sie kriegen ja noch nicht mal deinen Namen richtig hin. Bleib hier bei uns«, sagte die Stimme der Gestalt ganz hinten im Zimmer. »Wir werden dir zuhören und mit dir spielen und mit dir lachen. Deine andere Mutter wird dir ganze Welten errichten, die du erkunden kannst, und jeden Abend, wenn du fertig bist, wird sie alles wieder abreißen. Jeder Tag wird schöner und bunter sein als der Tag zuvor. Erinnerst du dich noch an die Spielzeugkiste? Um wie viel besser wäre eine Welt, die so erbaut wird, und alles nur für dich?«
»Und wird es graue, nasse Tage geben, an denen ich einfach nicht weiß, was ich tun soll, und es gibt nichts zu lesen und nichts im Fernsehen und man kann nicht raus
und der Tag zieht sich ewig dahin?«, fragte Coraline.
Aus den dunklen Schatten heraus sagte der Mann: »Niemals.«
»Und wird es grässliches Essen geben, mit Gerichten, die nach Rezepten gekocht sind, mit Knoblauch und Estragon und Pferdebohnen darin?«, fragte Coraline.
»Jede Mahlzeit wird eine wahre Wonne sein«, flüsterte die Stimme unter dem Hut des alten Herrn hervor. »Du wirst nichts bekommen, was dich nicht rundum begeistert.«
»Und kriege ich Handschuhe in grüner Leuchtfarbe und gelbe Gummistiefel, die wie Frösche geformt sind?«, fragte Coraline.
»Frösche, Enten, Rhinozerosse, Tintenfische – was dein Herz begehrt. Die Welt wird jeden Morgen neu für dich erbaut. Wenn du hierbleibst, kannst du haben, was immer du willst.«
Coraline seufzte. »Du verstehst das wirklich nicht, stimmt’s?«, sagte sie. »Ich will gar nicht alles haben, was ich will. Das will kein Mensch. Nicht wirklich. Wo bliebe der Spaß dabei, wenn ich einfach alles kriegen würde, was ich will? Einfach so, ohne dass es mir etwas bedeutet? Und was dann?«
»Das verstehe ich nicht«, sagte die flüsternde Stimme. »Klar kannst du das nicht verstehen«, sagte Coraline und hielt sich den Stein mit dem Loch in der Mitte vors Auge. »Du bist ja auch nur eine schlechte Kopie, die sie von dem verrückten alten Herrn von oben angefertigt hat.«
»Jetzt nicht mal mehr das«, sagte die leblose Flüsterstimme. Von dem Regenmantel des alten Herrn ging ungefähr in Brusthöhe ein Leuchten aus. Durch das Loch im Stein funkelte und blitzte das Leuchten so bläulich weiß wie ein Stern. Coraline hätte gern einen Stock gehabt, mit dem sie an ihm herumstochern könnte – sie hatte nicht die geringste Lust, dem Mann im dunklen Schatten hinten im Zimmer näher zu kommen.
Aber sie trat einen Schritt näher an ihn heran und da zerfiel er. Aus den Ärmeln, unter dem Mantel und aus dem Hut sprangen schwarze Ratten hervor, zwanzig und mehr, mit roten Augen, die in der Dunkelheit leuchteten. Sie quiekten und sie flohen. Der Mantel begann zu flattern und sackte zu Boden. Der Hut rollte in die Ecke.
Coraline streckte die Hand aus und zog den Mantel auseinander. Er war leer, fühlte sich aber speckig an. Von der letzten Glasmurmel fand sich keine Spur darin. Coraline lugte durch das Loch im Stein und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Dabei entdeckte sie in der Nähe der Tür etwas, das in Fußbodenhöhe wie ein Stern funkelte und glühte. Die größte der schwarzen Ratten hielt es in den Vorderpfoten. Als Coraline zu ihr hinsah, huschte sie davon.
Die anderen Ratten beobachteten Coraline aus den Augenwinkeln, als sie hinterherlief.
Also, Ratten können schneller rennen als Menschen, vor allem auf Kurzstrecken. Aber eine große, schwarze Ratte mit einer Murmel in den beiden Vorderpfoten kommt nicht gegen ein Mädchen an (auch wenn es klein für sein Alter ist), das wild
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