Coraline
nur noch ein Apfelkerngehäuse, das schon braun wurde. Der Tisch scharrte mit seinen hölzernen Löwentatzen über den Teppich, als wartete er ungeduldig auf etwas. Hinten im Zimmer, in der Ecke, befand sich die Holztür, die früher einmal, an einem anderen Ort, zu einer schlichten Backsteinmauer geführt hatte. Coraline gab sich Mühe, nicht auf die Tür zu starren. Hinter dem Fenster war nichts als Nebel zu sehen.
Jetzt war es so weit, das wusste Coraline. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Die Zeit, um alles zu klären.
Die andere Mutter war ihr in die gute Stube gefolgt. Jetzt baute sie sich mitten im Zimmer auf, zwischen Coraline und dem Kaminsims, und sah mit schwarzen Knopfaugen auf Coraline hinab.
Das ist komisch, dachte Coraline. Die andere Mutter sah ihrer richtigen Mutter kein bisschen ähnlich. Sie fragte sich, wie sie sich jemals so sehr hatte täuschen lassen, dass sie sich eine Ähnlichkeit eingebildet hatte. Die andere Mutter war riesig – ihr Kopf stieß fast an die Decke – und ganz bleich, so fahl wie der Bauch einer Spinne. Die Haare wanden und schlangen sich um ihren Kopf und ihre Zähne waren messerscharf . . .
»Na?«, sagte die andere Mutter schroff. »Wo sind sie?«
Coraline lehnte sich an einen Sessel, rückte mit der linken Hand den Kater zurecht und holte mit der rechten die drei Glasmurmeln aus der Tasche. Sie waren grau mattiert und sie klackten auf ihrer Handfläche aneinander. Die andere Mutter streckte ihre weißen Finger danach aus, aber Coraline ließ die Murmeln wieder in die Tasche gleiten. Jetzt wusste sie, dass es wirklich so war: Die andere Mutter hatte nicht die Absicht, Wort zu halten und sie gehen zu lassen. Für sie war das nichts als eine Belustigung gewesen. »Augenblick noch«, sagte sie. »Wir sind noch nicht fertig, stimmt’s?«
Die andere Mutter durchbohrte sie mit ihren Blicken, setzte aber ein süßes Lächeln auf. »Nein«, sagte sie. »Wohl nicht. Schließlich musst du erst noch deine Eltern finden, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Coraline. Ich darf nicht zum Kaminsims hinsehen, dachte sie. Ich darf noch nicht mal an ihn denken.
»Na?«, sagte die andere Mutter wieder. »Dann hol sie doch hervor. Möchtest du noch mal im Keller nachsehen? Dort habe ich nämlich auch noch andere interes sante Dinge versteckt.«
»Nein«, sagte Coraline. »Ich weiß, wo meine Eltern sind.«
Der Kater lastete schwer auf ihren Armen. Sie schob ihn ein Stück vor und löste dabei seine Krallen von ihrer Schulter.
»Wo denn?«
»Das ist doch logisch«, sagte Coraline. »Ich habe sie überall gesucht, wo du sie versteckt haben könntest. Sie sind nicht im Haus.«
Die andere Mutter stand ganz still, mit fest zusammengepressten Lippen, und ließ sich nichts anmerken. Sie hätte ebenso gut eine Wachsfigur sein können. Sogar ihre Haare hörten auf zu zappeln.
»Also«, fuhr Coraline fort, beide Hände fest um den schwarzen Kater geschlungen. »Ich weiß, wo sie sein müssen. Du hast sie in dem Gang zwischen den Häusern versteckt, stimmt’s? Sie sind hinter dieser Tür.« Sie wies mit einem Kopfnicken zur Tür hinten in der Ecke.
Die andere Mutter blieb stocksteif stehen, aber die Andeutung eines Lächelns schlich sich wieder in ihr Gesicht. »Ach, dort sind sie also, ja?«
»Warum machst du nicht auf?«, sagte Coraline. »Sie sind dort, ganz bestimmt.«
Sie wusste, dass das ihre einzige Möglichkeit war, nach Hause zu kommen. Doch alles hing von der Scha denfreude der anderen Mutter ab, von ihrem Bedürfnis, nicht nur zu gewinnen, sondern ihren Sieg auch noch hämisch vorzuführen.
Langsam langte die andere Mutter in die Schürzentasche und holte den schwarzen Eisenschlüssel hervor. Der Kater regte sich unbehaglich in Coralines Armen, als wollte er hinunter. Bleib doch nur noch einen Augenblick länger, dachte sie und fragte sich, ob er sie wohl hören konnte. Ich bringe uns beide nach Hause. Das hab ich dir doch gesagt. Ehrenwort. Sie spürte, wie der Kater in ihren Armen sich ein ganz klein wenig entspannte.
Die andere Mutter ging zur Tür und steckte den Schlüssel ins Schloss.
Sie drehte den Schlüssel um.
Coraline hörte das schwerfällige Klick des Mechanismus. So leise sie konnte, begann sie, Schritt für Schritt zum Kaminsims zurückzuweichen.
Die andere Mutter drückte die Türklinke hinunter und machte die Tür auf, hinter der ein dunkler, leerer Korridor sichtbar wurde. »So«, sagte sie und wedelte mit der Hand zum Korridor hin. Der entzückte
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