Coraline
geringste Pause zog sie die schwere Falltür zu sich heran und ließ los. Genau in dem Augenblick, als etwas Großes dagegenschlug, knallte sie mit Donnergetöse zu. Die Falltür rüttelte und ratterte im Boden, blieb aber an Ort und Stelle.
Coraline holte tief Luft. Wenn es in der Wohnung irgendwelche Möbel gegeben hätte, und sei es auch nur ein Stuhl, hätte sie ihn auf die Falltür geschoben, aber es war nichts da.
So schnell sie konnte, lief sie aus der Wohnung, ohne dabei jedoch richtig zu rennen, und sie schloss die Eingangstür hinter sich ab. Den Schlüssel legte sie unter die Fußmatte. Dann trat sie auf die Auffahrt hinaus.
Sie hatte so halb und halb damit gerechnet, dass ihre andere Mutter dort stehen und schon auf sie warten würde, aber die Welt war still und leer.
Coraline wollte nach Hause.
Sie schlang die Arme um sich und redete sich ein, wie tapfer sie doch war, und fast glaubte sie sich sogar. Dann lief sie durch den grauen Nebel, der kein Nebel war, um das Haus herum auf die andere Seite und sie steuerte die Treppe an, um nach oben zu gehen.
10 .
C oraline stieg die Außentreppe bis zum obersten Stockwerk hoch, wo in ihrer Welt der verrückte alte Herr wohnte. Einmal, als ihre echte Mutter für einen wohltätigen Zweck Geld sammelte, war sie mit ihr hinaufgegangen. Sie hatten in der offenen Tür gestanden und gewartet, während der verrückte alte Herr mit dem großen Schnurrbart den Briefumschlag suchte, den Coralines Mutter für die Spenden verteilt hatte. Die Wohnung hatte nach sonderbarem Essen und Pfeifentabak und seltsamen, scharfen Dingen gerochen, die etwas Käsiges an sich hatten und die Coraline nicht benennen konnte. Weiter als bis zur Tür hatte sie nicht in die Wohnung vordringen wollen.
»Ich bin Entdeckerin«, sagte Coraline laut, aber in der nebligen Luft klangen die Worte gedämpft und leblos. Sie hatte es schließlich auch aus dem Keller geschafft, oder etwa nicht?
Ja, das hatte sie geschafft. Aber Coraline war sich so sicher wie nur was, dass diese Wohnung noch schlimmer werden würde.
Sie kam ganz oben an. Die Wohnung im obersten Stockwerk war früher einmal der Dachboden gewesen, aber das war lange her.
Coraline klopfte an die grün gestrichene Tür. Sie ging auf und Coraline trat ein.
»Wir haben Augen, Ohren, Schwänze . Wir können dir die Zähne zeigen . Jeder kriegt, was ihm gebührt , Wenn wir aus der Tiefe nach oben steigen« ,
flüsterten ein Dutzend oder mehr kleiner Stimmchen in der dunklen Wohnung, in der die Dachschräge tief herunterreichte und die Decke so niedrig war, dass Coraline sie mit ausgestrecktem Arm fast hätte berühren können.
Rote Augen starrten sie an. Kleine rosa Füße huschten davon, als sie näher kam. Durch die dunklen Schatten an den Ecken und Kanten glitten noch dunklere Schatten.
Hier stank es noch viel schlimmer als oben in der Wohnung des echten verrückten alten Herrn. Die roch nach Essen (unangenehmes Essen nach Coralines Einschätzung, aber sie wusste, dass das eine Geschmacksfrage war; sie mochte nun mal keine Gewürze und Kräuter und exotischen Sachen). Die Wohnung hier hingegen roch, als hätte man alle exotischen Gerichte der Welt hier abgestellt und vergammeln lassen.
»Kleines Mädchen«, sagte eine rasselnde Stimme aus einem hinteren Zimmer.
»Ja«, sagte Coraline. Ich habe keine Angst, hielt sie sich selbst vor, und während sie das dachte, wurde ihr klar, dass es stimmte. Hier war nichts, was sie schrecken konnte. Diese Wesen – selbst das Ding im Keller – waren Trugbilder, Dinge, die ihre andere Mutter als grausige Parodie der echten Menschen und der wirklichen Dinge am anderen Ende des Korridors geschaffen hatte. Coraline kam zu dem Ergebnis, dass die andere Mutter gar nicht wirklich etwas erschaffen konnte. Sie konnte nur Dinge nachahmen und verdrehen und verzerren, die bereits existierten.
Und dann begann sich Coraline darüber zu wundern, wieso die andere Mutter eine Schneekugel auf den Kaminsims in der guten Stube gestellt hatte. In Coralines Welt war der Kaminsims nämlich völlig kahl.
Sobald sie sich diese Frage gestellt hatte, wurde ihr klar, dass es darauf eine Antwort gab.
Dann erklang wieder die Stimme und ihr Gedankengang wurde unterbrochen.
»Komm her, kleines Mädchen. Ich weiß, was du willst, kleines Mädchen.« Es war eine rasselnde Stimme, kratzig und trocken. Coraline musste dabei an ein riesiges totes Insekt denken. Das war natürlich albern, wie sie sehr wohl wusste. Wie konnte
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