Corbins 01 - Wer Das Paradies Nur Finden Will ...
konnte
gut verstehen, welchen Zorn eine solche Situation in einem
verantwortungsbewußten Arzt auslösen mußte.
Jenny ging auf die Küchentür zu.
»Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer«, sagte sie. »Kommen Sie!«
»Es tut mir leid, daß ich Sie gestern
nacht geweckt habe, Jenny«, sagte Banner beim Frühstück. Ein schrecklicher
Alptraum hatte sie gequält, in dem eine Frau verblutete und vor Schmerzen
schrie, und aus der Frau war schließlich Banner selbst geworden, und Adam, der
in ihrem Traum mit wutverzerrtem Gesicht vor dem Bett stand, hatte sich in Sean
verwandelt. Banners entsetzter Aufschrei hatte Jenny herbeigerufen.
Jenny musterte Banner sinnend.
»Haben Sie oft Alpträume?«
Nur einen, dachte Banner. »Ich war
sehr müde«, sagte sie.
»Wer ist Sean?« beharrte Jenny.
Ein lautes Klopfen an der Haustür
ersparte Banner eine Antwort. Dr. Adam Corbin war nicht nur pünktlich, sondern
anscheinend auch recht ungeduldig.
»O'Brien!« schrie er von draußen,
als Banner durch die Halle ging, um ihn einzulassen.
Er stand auf der Veranda, und seine
blauen Augen blitzten vor unterdrücktem Zorn. Heute sah er eher wie ein
Mitglied des englischen Adels aus als wie ein Landarzt auf dem Weg zu seinen
Visiten: seine Hosen waren aus einem weichen, rehfarbenen Material gearbeitet,
das sich eng an seine muskulösen Oberschenkel schmiegte und dann im Schaft von
hohen schwarzen Reitstiefeln verschwand. Über dem taillierten weißen Hemd trug
er einen Mantel aus feinstem Tweed.
Im hellen Tageslicht sah Banner, daß
sein Haar gar nicht richtig schwarz war, sondern von einem sehr dunklen Braun,
das mit helleren, kastanienfarbenen Strähnen durchsetzt war.
»Was ist, O'Brien?« fragte er
ungehalten.
Banner errötete, als ihr bewußt
wurde, wie sie ihn anstarrte, und zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts, Dr.
Corbin. Was soll schon sein?«
»Worauf warten wir dann noch?«
Banner hatte ihren wärmsten Umhang
und ihren Arztkoffer bereitgelegt, und drehte sich nun so hastig um, um beides
zu holen, daß sich ihr rechter Schuh im Rocksaum verfing und sie fast gefallen
wäre.
Adams Züge schienen weicher, als sie
sich danach zu ihm umdrehte, und ein schwaches Lächeln spielte um seinen Mund.
»Ich bin fertig«, sagte sie, um das
Schweigen zu brechen. »Ihre Augen haben die Farbe von Klee«, erwiderte er
gedankenverloren.
Banner beschloß, die Bemerkung zu
ignorieren. »Gehen wir?«
Adam lachte und deutete auf die
zweisitzige Kutsche, die vor dem Haus stand. »Nach ihnen«, sagte er.
Es war Banners erste Gelegenheit,
sich Port Hastings anzuschauen, und sie war froh, daß ihre Neugierde die
merkwürdigen Gefühle verdrängte, die die Gegenwart dieses Mannes in ihr auslösten.
Sie stieg munter in den kleinen
Wagen und spähte durch das Schneegestöber, während Adam einstieg und die Zügel
nahm.
»Wird diese Stadt wirklich Klein
Sodom und Gomorrha genannt?« erkundigte sie sich neugierig.
Adam lachte. »Das und vieles andere
mehr. Sodom und Gomorrha bezieht sich eigentlich nur auf Water Street.«
Banner dachte an die Frau, die dort
durch Stewart Henderson gestorben war, und ihre heitere Stimmung ließ
erheblich nach.
Um sich abzulenken, zeichnete sie in
Gedanken eine Landkarte und trug Port Hastings an der Meerenge von Juan de Fuca
ein, des Kanals, der Puget Sound vom Pazifik trennte. Es war anzunehmen, daß
hier Schiffe aller Nationalitäten anlegten, um die Steuern für ihre Fracht zu
entrichten.
Die Straßen im Stadtzentrum waren mit
hölzernen Bürgersteigen versehen. Auf den Laternen türmte sich hoch der Schnee.
Hausfrauen, Arbeiter, Seeleute, Indianer und Chinesen bevölkerten die schmalen
Straßen.
Die Geschäftsauslagen waren schon
für das bevorstehende Weihnachtsfest geschmückt, und vor fast jeder Tür hing
ein Kranz aus Stechpalmenblättern und bunten Schleifen.
Banner war entzückt von der
fieberhaften Geschäftigkeit der Stadt. Es war ganz offensichtlich, daß Port
Hastings danach strebte, sich zu vergrößern.
Sie bogen um eine Ecke. Kurz darauf
zog Adam die Zügel und befestigte die Bremse. »Ich komme gleich zurück«, sagte
er.
Banner betrachtete mißtrauisch die
beschlagenen Scheiben von Wung Los Wäscherei und Teeküche. Adam hatte
versprochen, sie auf seine Visiten mitzunehmen. Hatte er jetzt etwa vor, sie
draußen im Wagen sitzenzulassen, während er seine Patienten besuchte?
Er schien ihre Gedanken zu erraten
und schüttelte lachend den Kopf, als er aus dem Wagen stieg.
»Ich hole nur
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