Corbins 04 - Wer den Weg des Herzens folgt...
geschickt hatte, war immer noch genug Garderobe
vorhanden, um drei oder vier Frauen einzukleiden.
Melissa entschied sich für einen
grünen Kordrock und eine spitzenbesetzte Bluse mit hohem Kragen, die sie über
Taftunterwäsche und Seidenstrümpfe anzog. Dann kämmte sie ihr Haar mit dem
silbernen Kamm, den ihr Vater ihr zum letzten Weihnachtsfest vor seinem Tod
geschenkt hatte, und ging nach unten.
Sie fand ihre Mutter in ihrem
Arbeitszimmer, wo sie stirnrunzelnd vor der Schreibmaschine saß.
Melissa zog sich einen Stuhl heran.
»Was schreibst du?«
Katherine seufzte. »Eine neue Rede,
die noch vor der nächsten Legislaturperiode gehalten werden muß.« Sie zog das
Blatt aus der Maschine und starrte es an, als handelte es sich um eine
persönliche Beleidigung. »Wir müssen das Wahlrecht gewinnen, Melissa.«
Der Ansicht war Melissa auch, und
sie beabsichtigte, durch ihre Zeitung dafür zu kämpfen, aber im Augenblick
lagen ihr andere Dinge am Herzen. »Hast du den Jungen schon gesagt, daß du
heiraten wirst, Mama?«.
Katherine biß sich auf die Lippen
und schüttelte den Kopf. »Nein, und ich werde Harlan verlieren, wenn ich es
nicht tue. Gestern nacht hat er mir gesagt, er würde nach Kalifornien
zurückgehen, Ende der Woche, mit mir oder ohne mich.«
Obwohl Melissa Harlan Sommers nur
flüchtig begegnet war, hatte sie gespürt, wie sehr er und ihre Mutter sich
zueinander hingezogen fühlten. »Laß ihn nicht gehen«, warnte sie.
Katherine stand auf und ging zu
einem nahen Fenster. »Ich habe lange und hart für unsere Sache gekämpft«, sagte
sie ruhig, »aber jetzt bin ich müde. Harlan hat versprochen, mich zu lieben
und mich zu verwöhnen — und das wünsche ich mir.«
Melissa wartete schweigend ab, weil
sie ahnte, daß noch mehr kam.
Katherine drehte sich zu ihr um.
Ihre schönen blauen Augen schimmerten feucht. »Harlan ist ein guter Mann, ich
bete ihn an und weiß, daß ich in Kalifornien glücklich sein werde. Aber wenn
ich mit ihm vor den Altar trete, muß ich auf sehr viel mehr verzichten als auf
meine Enkelkinder und meine Arbeit in der Frauenbewegung. Ich muß deinen Vater
aufgeben, und das ist nicht leicht, weil ich immer noch sehr starke Gefühle für
ihn hege.«
Katherine schlug die Hände vor das
Gesicht und begann zu weinen. Melissa wollte sie gerade tröstend in die Arme
ziehen, als Harlan hereinkam.
»Das ist es also?« fragte er leise.
»Die Erinnerung an Daniel hat die ganze Zeit zwischen uns gestanden?«
Katherine hob den Kopf. Melissa
hätte sich diskret zurückgezogen, aber ihre Mutter umklammerte ihren Arm, als
hinge ihr Leben davon ab, daß Melissa blieb. »Ich habe Daniel geholfen, ein
Reich aufzubauen«, sagte Katherine. »Ich habe ihm vier gesunde Kinder geboren.
Und obwohl ich dich liebe, Harlan, kann ich Daniel nicht aus meinem Herzen und
meinen Gedanken streichen, als ob er nie existiert hätte. Er war ein Teil von
mir.«
Harlans Blick verriet solch
zärtliches Verständnis, daß Melissa zu Tränen gerührt war. Er näherte sich
Katherine und nahm ihre Hände, und erst jetzt ließ sie den Arm ihrer Tochter
los.
»Ich würde nie von dir verlangen,
den Vater deiner Kinder zu vergessen«, hörte Melissa Harlan sagen, als sie zur
Tür eilte. »Warum hast du mir das alles nie gesagt, Katie?«
Melissa hatte nie , jemanden >Katie< zu ihrer Mutter sagen gehört, nicht einmal ihren eigenen
Vater. Sie lächelte, als sie durch die Halle zu dem schmalen Korridor ging,
der das Wohnhaus mit Adams und Banners Klinik verband.
Doch Adam und Banner waren unterwegs
zu ihren Visiten, und Melissa beschloß, Keith und Tess zu besuchen, obwohl ihr
Haus fast eine Meile entfernt lag.
Tess hockte auf den Knien und zupfte
Unkraut aus einem Blumenbeet. Mit einem Begeisterungsschrei sprang sie auf, als
sie Melissa sah, und führte sie nach einer stürmischen Umarmung zum Haus.
»Erzähl mir alles!« forderte sie sie auf. »Stimmt es, daß du mit einem Mann
durchgebrannt bist, der einen privaten Eisenbahnwaggon besitzt?«
Melissa lachte. »Nicht ganz«,
antwortete sie mit einem warmen, zärtlichen Gefühl für den Mann, der in diesem
Augenblick in ihrem Bett lag und schlief.
Während sie mit Tess auf das große
Haus zuging, dachte sie an ihre Brüder, die alle so verschieden waren und doch
so viel gemeinsam hatten. Adam war Arzt und sehr erfolgreich und anerkannt in
seinem Beruf: Jeff war früher als Kapitän zur See gefahren und baute heute
Schiffe, womit er Dutzenden von Menschen Arbeit
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