Corbins 04 - Wer den Weg des Herzens folgt...
sie
nicht bedacht!«
Ein kalter Schauder lief über ihren
Rücken, obwohl es sehr warm in der Küche war. »Es wäre ein schrecklicher Fehler
gewesen, wenn wir geheiratet hätten«, sagte sie leise.
»Nein«, protestierte Ajax. »Es wäre
eine gute Ehe geworden.«
Melissa hatte allmählich das Gefühl,
vor einem Wahnsinnigen zu stehen, aber sie fürchtete sich nicht, weil sie
wußte, daß der leiseste Ruf sofort Hilfe herbeibringen würde. »Du hast eine
Mätresse«, erinnerte sie Ajax kühl.
Ajax war ein Bild der Enttäuschung.
»Warum stört dich das so sehr? Fast alle Männer haben eine Geliebte ...«
»Die Statistiken interessieren mich
nicht«, unterbrach Melissa ihn scharf. »Ich will keinen Mann, der mich nicht
genug liebt, um mir treu zu sein.«
Der abgewiesene Bräutigam fuhr sich
nervös durchs Haar, und Melissa fragte sich, wieso sie seine offensichtliche
Charakterschwäche früher nie bemerkt hatte. »Deine eigenen Brüder halten sich
bestimmt auch Mätressen«, sagte Ajax.
Melissa verschränkte die Arme und
schüttelte den Kopf. »Port Hastings ist eine kleine Stadt«, sagte sie ruhig.
»Wenn das so wäre, hätte ich davon gehört.«
Ajax zog eine Braue hoch. »So? Wie
du auch die Geschichte mit deinem Vater erfahren hast, nicht wahr?« Er
spreizte resigniert die Hände. »Er war ein notorischer Frauenheld.«
Melissa stockte der Atem vor Zorn.
»Das ist eine Lüge!«
»So?« entgegnete Ajax boshaft. »Frag
doch deine Mutter — oder deine tugendhaften Brüder.«
»Hinaus.«
Wieder spreizte er die Hände. »Du
bist eine Närrin, Melissa. Eine verwöhnte, naive kleine Närrin. Eines Tages
wirst du einsehen, daß es keine Prinzen auf dieser Welt gibt — nur ganz
gewöhnliche, sterbliche Männer.«
Melissa begann auf die Tür
zuzugehen, aber Ajax ließ sie nicht vorbei. Mit einem harten Griff riß er sie
an sich heran und preßte sie an seine Brust. Melissa wehrte sich wie wild, zu
wütend, um zu schreien, aber sie entkam ihm nicht. Er packte ihr Haar und zog
ihren Kopf zurück, um sie brutal zu küssen. Sein Atem roch nach Alkohol und
Haß.
Melissa strampelte und trat nach
ihm, aber es waren nicht ihre eigenen Anstrengungen, die sie schließlich von
ihm befreiten. Nein, plötzlich schloß sich eine Hand um seinen Nacken, und Ajax
wurde zurückgestoßen an die Wand beim Kamin, die er mit einer solchen Wucht
traf, daß Melissa zusammenzuckte.
»Ich glaube, du gehst jetzt lieber«,
sagte Keith gefährlich leise, bevor er den aufdringlichen Verehrer seiner
Schwester freigab.
Ajax klopfte seine staubigen Kleider
ab, als habe sich gar nichts ereignet, und musterte höhnisch grinsend Keith'
weißen Priesterkragen. »Ich beeile mich, um noch in die Messe zu kommen«, sagte
er spöttisch.
»Gut«, erwiderte Keith. »Dann kannst
du dem lieben Gott dafür danken, daß ich es war, der hereingekommen ist und
nicht Jeff oder Adam. Sie wären nämlich jetzt noch mit dir beschäftigt.«
Ajax bemühte sich, seine tapfere
Haltung zu bewahren, aber er war leichenblaß geworden und ging nach einem
kurzen Nicken in Melissas Richtung zur Hintertür und schlenderte hinaus.
»Alles in Ordnung?« fragte Keith,
während er Melissa bei den Schultern nahm und ihr prüfend in die Augen schaute.
Melissa biß sich auf die Lippe. Sie
war knapp dreizehn gewesen, als Daniel Corbin ertrunken war, und die Nachricht
hatte sie zutiefst erschüttert. Sie hatte ihren Vater geliebt und geachtet und
nie ganz aufgehört, um ihn zu trauern. Deshalb schmerzte Ajax' Andeutungen wie
Salz in einer offenen Wunde.
»Ha«, sagte sie leise.
Ihr Bruder hob ihr Kinn zu sich
empor. »Sag die Wahrheit.«
»Er hat etwas Schreckliches über
Papa gesagt«, gestand sie bedrückt. »Er sagte, Papa sei ... wie er gewesen. Er
sagte, er hätte sich eine Mätresse gehalten.«
Keith wandte für einen Moment den
Blick ab. Dann sagte er: »Angenommen, es wäre so gewesen, Melissa? Würde das
etwas an deinen Gefühlen oder Erinnerungen ändern?«
Melissa schluckte, am liebsten hätte
sie sich die Ohren zugehalten. »Ich will nichts davon hören!« flüsterte sie.
»Ich will es nicht wissen, Keith.«
Ihr Bruder küßte sie auf die Stirn.
»Papa war ein guter
Mensch, Melissa. Er liebte Mama, und
er liebte uns. Ist das nicht das wichtigste?«
Melissas Augen brannten vor Tränen.
Ihr Schmerz und ihre Enttäuschung verwandelte sich in Zorn, dem sie nun Luft
machen mußte. »Dann hatte Ajax bestimmt auch recht, was euch betrifft!« schrie
sie. »Dich
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