Corbins 04 - Wer den Weg des Herzens folgt...
zuerst.
Keith' Nachricht war kurz und
bündig. Er wollte etwas mit Melissa besprechen — was, erklärte er nicht — und
würde am Morgen des fünfzehnten mit dem Zug in Port Riley eintreffen.
Melissas Hände zitterten, als sie
den Brief zusammenfaltete. Sie fürchtete sich nicht vor ihren Brüdern, weil
sie wußte, daß sie sie liebten, aber Keith' knapper, präziser Ton alarmierte
sie. Es mußte etwas passiert sein. Vielleicht hatte ihre Familie etwas über
ihre Situation gehört und schickte Keith, der immer der Diplomatischste von allen
gewesen war, um mit ihr zu reden?
Melissa war so tief in Gedanken
versunken, als sie den schäbigen kleinen Speisesaal des Hotels betrat, daß sie
fast mit Mrs. Wright zusammengestoßen wäre, die gerade herauskam. Die zierliche
alte Dame trug ein elegantes Reisekostüm und befand sich in Begleitung einer
etwas größeren und plumperen Frau.
»Ich wollte mich von Ihnen
verabschieden, Mrs. Rafferty«, sagte Quinns Haushälterin, während sie Melissas
Hände nahm und sie beiseite zog.
Melissa lächelte. »Sie fahren nach
Europa, hörte ich«, sagte sie fast ein bißchen neidisch.
Mrs. Wright nickte strahlend und
stellte Melissa ihre Schwester vor, die ganz offenbar in besseren finanziellen
Verhältnissen lebte. »Wir werden eine wunderbare Zeit erleben«, schwärmte Mrs.
Wright. Doch dann verblaßte ihre Freude und machte Besorgnis Platz. »Ich bin
eine alte Frau, Mrs. Rafferty, und habe mir das Recht verdient, ganz offen zu
sein«, sagte sie leise zu Melissa. »Sie müssen mit diesem Unsinn aufhören und
sich um Ihren Mann kümmern. Es ist ja schließlich nicht so, als ob es keine
anderen Frauen gäbe, die diese Aufgabe nicht mit Freuden übernehmen würden.«
Da Melissa Mrs. Wright sehr
schätzte, fühlte sie sich von deren Worten nicht beleidigt. »Ich fürchte, so
einfach ist das nicht«, sagte sie leise.
»O doch, das ist es«, widersprach
die alte Dame höflich. »Schauen Sie zu, daß Sie zu Ihrem Mann in die Berge
kommen und sich mit ihm einigen, bevor es zu spät ist!«
Melissa errötete, teils aus
Entrüstung, teils aus Verlegenheit. Mrs. Wright war schon der zweite Mensch an
diesem Tag, der ihr riet, in die Berge hinaufzusteigen wie eine Art verlorener
Sohn. Es war einfach nicht gerecht, daß sie in allem nachgeben sollte, während
Quinn munter sein Leben so fortsetzte, wie es ihm beliebte.
»Du machst die junge Dame ganz
nervös, Marion«, mischte sich Mrs. Wrights Schwester ein, die Melissa als
Hattie vorgestellt worden war. »Wann wirst du dir endlich das
Herumkommandieren abgewöhnen?«
Mrs. Wright warf Hattie einen
empörten Blick zu. »Aber das habe ich doch nie getan!«
Melissa trat lächelnd vor und gab
Mrs. Wright einen Kuß auf die Wange. »Auf Wiedersehen, meine Freundin«, sagte
sie herzlich. »Ich wünsche Ihnen eine sehr, sehr schöne Reise.«
Mrs. Wright nickte gerührt. »Ich
schicke Ihnen eine Postkarte«, versprach sie, bevor sie und ihre Schwester das
Hotel verließen und Melissa in den Speisesaal ging.
Sie setzte sich ans Fenster und las
den Brief ihres Herausgebers, während sie auf das Essen wartete. Er sei froh,
zu erfahren, daß sie wieder einen Roman vorbereitete, schrieb er, und erwarte
schon gespannt das neue Manuskript.
Seufzend legte Melissa den Brief
beiseite, um Keith' Zeilen noch einmal durchzulesen. Sie war so vertieft darin,
daß sie kaum bemerkte, wie Mitch Williams sich auf den Stuhl ihr gegenüber
setzte. Mit einem Lächeln deutete er auf ihre Suppe und meinte warnend, sie
würde allmählich kalt.
Melissa nickte und nahm ihren
Löffel, ohne Mister Williams zu fragen, was er wollte, weil sie sicher war, es
schon bald zu erfahren.
»Ich habe heute morgen mit Bradberry
gesprochen, Melissa. Tut mir leid, das mit Ihrer Zeitung.«
Melissa starrte auf die Nudeln und
das Gemüse in ihrem Teller. »Danke«, antwortete sie.
»Sie mögen mich nicht sehr, was?«
fragte Mitch ruhig. Melissa hob den Kopf. »Ich traue Ihnen nicht«, gab sie
offen zu.
»Warum denn nicht?« fragte er
beleidigt.
»Weil Sie Quinn erzählt haben, ich
hätte Sie damals um Geld gebeten, während der Vorschlag, es mir zu leihen, in
Wirklichkeit von Ihnen stammte.«
Mitch seufzte und bestellte sich
Kaffee. Dann gestand er lächelnd: »Vielleicht wollte ich damit erreichen, daß
Quinn ein bißchen vorsichtiger wurde.«
»Wozu?« entgegnete Melissa
ärgerlich. Quinn und sie hatten genug eigene Probleme, ohne daß sich auch noch
andere Leute
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