Coruum Vol. 2
Raoula, wie ein Gedankenscanner ihre ID abtastete, während sie gespannt vor dem Schrein von Aonia wartete. Lautlos wurde die schwarz schimmernde Oberfläche transparent und erlaubte den Blick ins Innere. Hirn, Hirnstamm und Rückenmark waren in natürlicher Form angeordnet und in einem vollkommen durchsichtigen Material eingegossen zu erkennen. Wie Sterne in einer Wolke aus Dunkelmaterie funkelten die winzigen spinnenähnlichen Septid-Konnektoren der Implantate, welche zu Lebzeiten zusätzlich Steuerimpulse an das Nervensystem abgeben oder aufnehmen konnten.
»Und? Was sagst du, Rastolon, ist das vollständig?« Der Blick der Benedictine lastete auf dem geduckten, alten Mann. »Ich kann nicht bemerken, dass etwas fehlt, Mutter. Die Konnektoren-Dichte ist wesentlich geringer als bei uns, aber sie sehen intakt aus.« Er beugte sich dicht über die transparente Oberfläche hinunter und kniff die Augen zusammen. »Da oben wurde manipuliert. Einzelne Verbindungen der Konnektoren sind geschmolzen.«
Raoula sah auf die Stelle der Großhirnrinde, auf die der Zeigefinger des Abtes zeigte. »Kann das nicht nach ihrem Tod bei der Entnahme erfolgt sein, Vater?«
»Ich gehe davon aus, dass es erst nach ihrem Tod erfolgt ist, Mutter«, entgegnete der Abt zaghaft. »Diese Manipulationen waren nicht die Ursache ihres Todes.« Er spürte ihren bohrenden Blick. »Wenn das Attentat auf Aonia nicht sofort erfolgreich gewesen war sondern sie noch eine Zeitlang danach weitergelebt hat möglicherweise bei Bewusstsein war, würde dort die Erinnerung darüber gespeichert sein«, sagte er langsam. »Jemand wollte durch diese Manipulation sicherstellen, dass aus der ID nichts mehr ausgelesen werden kann, was Rückschlüsse auf die Art des Anschlags oder die Attentäter liefern kann.«
Raoula machte sich die Tragweite dieser Entdeckung bewusst. Das würde bedeuten, jemand aus ihrer unmittelbaren Umgebung musste beteiligt gewesen sein. Jede Urmutter wurde vollständig überwacht. Sie war so wichtig für die Kirche, dass es keine unbeobachtete Sekunde in ihrem Leben nach der Erleuchtung gab, keinen Moment, in dem sie nicht von einem Heer des Inneren Kreises bewacht würde. Im Fall eines Versuchten oder sogar erfolgten Angriffs auf sie würden diese Sicherheits- und Überwachungsvorkehrungen ins Unüberwindliche gesteigert werden.
»Du sagst damit, dass diese Form der Manipulation nur von einem Vertrauten Aonias durchgeführt worden sein kann – aus ihrem engsten Kreis.«
Vater Rastolon senkte zustimmend seinen kahlen Kopf.
Raoula dachte darüber nach. Ihr Blick tastete sich an der benachbarten Statue von Mesaphode 4. in die Höhe. Du warst ihre Nachfolgerin, Mutter, was wusstest du darüber?
Sie schritt über den Mittelweg zum Schrein.
»Warte!«, sagte sie über ihre Schulter ohne sich umzudrehen zum Abt, als er ihr folgen wollte. Wie eingefroren blieb er mitten auf dem Steinpflaster stehen. Die Benedictine ging allein an den rechten Fuß der Urmutter.
Mutter? , rief sie nach der Pseudo-Intelligenz der KI.
Meine Tochter!
Raoula zuckte zusammen. »Mutter? Wie lautet dein Name?«, fragte sie irritiert. Konnte das sein? Sollte diese ID nicht verschwunden sein?
Ich bin Mesaphode die Vierte, Kind! Was kann ich für dich tun?
»Entschuldigt, Mutter!«
Sie sah zurück zu Vater Rastolon, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte und unter ihrem Blick nun zusammenzuckte. »Sehen wir nach, Vater!«
Durch die transparente Abdeckplatte des Schreins bot sich ihnen das gleiche Bild wie zuvor bei Aonia. Gehirn und Rückenmark waren vollständig erhalten. Der Abt spürte den aufsteigenden Zorn der Benedictine, als befände sich sein Schädel in einer Presse.
»Es ist nicht ihr Gehirn, Mutter – kann es nicht sein«, brachte er unter Stöhnen flüsternd hervor. »Es muss von einer anderen Frau, vielleicht einer Novizin stammen.«
»Und wie stellen wir das fest, ohne es mitzunehmen?« fauchte Raoula zurück.
Rastolon beugte sich bis auf die transparente Oberfläche des Schreins hinunter, legte eine Wange auf und starrte hinein.
»Seht! Es ist zu jung!, fast ohne Verfärbung an den Seiten des Großhirns.« Der Druck in seinem Kopf ließ langsam nach. »Die Konnektoren sind nachträglich implantiert worden. Die Gehirnzellen sind gestorben, bevor die Implantatsstellen verwachsen konnten. Dieses Gehirn hat niemals einer Urmutter gehört! Es ist nicht älter als vierzig Jahre.«
Raoula sah hinein und konzentrierte sich auf einen Konnektor am
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