Coruum Vol. 2
große Aufmerksamkeit zu genießen. Auf dem ersten Kilometer zwischen den Statuen der Urmütter hindurch hing Raoula ihren Gedanken nach und versuchte eine eigene Logik in das Verhalten Ramones und die Informationen des alten Abtes zu bringen, die nicht automatisch in einer Konfrontation zwischen ihr und der Urmutter enden würde. Ihr fehlten eigene Beweise. Sie hatte natürlich die Informationen des Abtes überprüft – er log nicht und er glaubte selbst an das, was er sagte – aber es genügte ihr nicht. Sie musste sich selbst überzeugen und das Naheliegende war dazu der physische Beweis der vom alten Abt vermuteten Zusammenhänge.
Sie hielt an. Zu ihrer Linken stand die Statue von Kryptia 11., der einhundertvierundfünfzigsten Urmutter und der ersten, von der die Gehirnmuster-ID existierte. Alle Urmütter vor ihr waren nicht in die Gunst einer ausgereiften Reinkarnationstechnik gekommen und hatten im Durchschnitt nicht länger als fünfzig Jahre regieren können. Kryptia 11. markierte die Grenze in der Chronologie der Urmütter, von der an die Lebenserwartung durch die Reinkarnationstechnik deutlich angestiegen war. Rein äußerlich war das an den deutlich jüngeren Abbildern der Statuen zu erkennen und an einem altarähnlichen Schrein zu ihren Füßen, in dem die Gewebereste des zentralen Nervensystems, atmosphäredicht verschlossen, als Reliquien aufbewahrt wurden. Der Grund für die jüngeren Portraits lag einzig darin, dass die neu erleuchteten Urmütter sich fortan in den neuen, jugendlichen Körpern von Novizinnen modellieren ließen. Einzelne Urmütter waren dazu übergegangen, sich selbst zu klonen und die Körper dieser Klone zu Novizinnen auszubilden. Kryptia 11. hatte nach ihrer Erleuchtung im Jahre 25245 noch zweihundertvierundsechzig Jahre regiert.
Die Benedictine trat an den äußeren rechten Fuß der Statue heran und fühlte in ihren Gedanken nach dem Geist Kryptias.
Meine Tochter!
Sie zuckte leicht zusammen. Vor Raoulas innerem Auge erschien ein Bild von Kryptia, jung, schwarzhaarig, mit dunklen geheimnisvollen Augen. Es handelte sich um ihr digitalisiertes Gehirnmuster, das von allen Urmüttern nach ihr in den Statuen aufbewahrt wurde. Natürlich war es nicht die echte Persönlichkeit der Urmutter, sondern eine auf der jeweiligen Zeit beruhende Form von künstlicher Intelligenz, welcher die Gedankenmuster der verschiedenen Urmütter eingeprägt worden war. Trotzdem war der erzielte Effekt bemerkenswert, dachte Raoula.
»Entschuldige, Mutter«, murmelte sie, ging zurück in die Mitte der beiden Statuen-Reihen und setzte ihren Weg fort. Nach wenigen Minuten blieb sie erneut stehen. Vor ihr auf der rechten Seite erhob sich Aonia 2., der eine den Aufzeichnungen nach schwächsten Regentschaften nachgesagt wurde – mit tragischem Ende. Wegen ihr war sie gekommen.
Raoula drehte sich nach ihren Begleitern um. Vater Rastolon und die Ritter waren noch etliche Statuen entfernt.
Bring ihn zu mir! , befahl sie ihrem Primus, schritt zu Aonias linkem Fuß und ließ ihre Gedanken suchen.
Meine Tochter!
Das Bild einer anmutigen, großen Frau mit hellem Haar und melancholischen Augen erschien in Raoulas Geist. »Mutter!«
Wie heißt du, Kind? Was führt dich hierher?
Raoula dachte kurz nach, dann sagte sie: »Ich bin Benedictine Raoula die 56. Mutter, ich bin betrübt über deinen Tod. Wie kam es dazu?«
Aonias Bild lächelte sie an. Du bist betrübt, Raoula? Warum? Es ist schon so lange her!
»Ich versuche die Umstände zu verstehen, Mutter. An was kannst du dich erinnern?«
Die Stimme in ihrem Kopf lachte. An nicht sehr viel, Kind. Ich war schon so schwach, weißt du? Es war gar nicht einmal unangenehm – glaube ich. Meine Erinnerung ist nicht sehr ausgeprägt.
Vater Rastolon war neben die Benedictine getreten und sah sie ratlos an, als sie laut mit der Statue sprach.
Raoula unterdrückte ihre Enttäuschung. »Danke, Mutter, verzeih, dass ich dich gestört habe«, entgegnete sie mit einem abschätzenden Blick auf den Abt.
»Du kannst mit ihnen sprechen?« Vater Rastolon war verblüfft.
»Die ID von Aonia ist intakt, Vater«, entgegnete Raoula, die gestellte Frage des Abtes ignorierend. »Sie wirkte etwas lobotomisiert, aber sie ist unzweifelhaft nicht gelöscht. Sehen wir uns an, was übrig ist.« Sie deutete auf den Schrein zwischen den Füßen der Statue, der aus dem gleichen schwarzen Material wie die Statue selbst bestand.
Vater Rastolon nickte gehorsam und folgte ihr.
Erneut spürte
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