Coruum Vol. 2
seiner rechten Seite versetzt, weit genug von Sinistra und Karen entfernt, und begann vorsichtig zu klettern. Die Felsstufe, die erste Etappe, befand sich ungefähr zehn Meter über unserer Ausgangsposition und hing teilweise bis zu zwei Metern über. Auf ihr befand sich ein großer Felsen. Er zeigte mit einer bewachsenen Seite zu uns, dass hieß, er war von der Oberfläche herabgestürzt und konnte weiter hinunterstürzen, wenn wir ihn falsch belasteten.
Ich kam überraschend gut voran, fand fast überall Halt in dem porösen Gestein, nachdem ich hier und da rutschige Erdschichten entfernt hatte. Nach einigen Minuten hatte ich die Hälfte geschafft und ruhte aus, um den Schmerz in meinen Händen abklingen zu lassen. Ein lautes Krachen gefolgt von einem Knirschen und Karens » Vorsicht, ihr da oben! « erinnerte mich an die Gefahren des Aufstiegs – nicht nur für uns. Ich sah nach unten, wo Karen nur zwei Meter neben dem herabgefallenen Felsen stand.
»Sorry, Ma’am!«, antwortete Sturgis zahm, vielleicht noch einen Meter unterhalb der Felsstufe und genauso weit neben dem großen Felsen in einer sehr exponierten Lage verharrend. Er kletterte langsam weiter und rollte sich dann auf die Felsstufe, aus meinem Sichtbereich. Ich begann mich jetzt auf seine vorherige Position zu zu bewegen. Als ich dort angelangt war, vermied ich die Stelle, von der sich der Stein gelöst hatte, und erreichte nach weiteren Minuten ebenfalls die Felsstufe, auf die mich Sturgis’ aus dem Nichts auftauchende Hand förmlich hinaufkatapultierte.
» Sieh! «, flüsterte er angespannt. Ich stellte mich hin und sah mich verdutzt um. Der Felsen, der neben uns auf der Stufe lag, war zweifelsfrei von oben herabgestürzt. Ich konnte gerade noch über ihn hinwegsehen. Wie ein Fremdkörper ruhte er auf einer vielleicht fünfzehn Meter tiefen Kalksteinstufe, die sich gut zwanzig Meter in beide Richtungen erstreckte, bevor ihre Kanten abzubröckeln begannen und in die Felswände des Cenote übergingen. Der Cenote besaß an dieser Stelle eine stufenförmige Ausbuchtung in der Form eines Halbkreises, die jetzt einen See bildete. Ein Wasserfall stürzte an der rechten Seite von der Oberfläche herab und speiste diesen See, dessen unruhige Wassermassen parallel zur Kante entlang flossen, weniger als ein paar Meter von ihr entfernt. Das Wasser, das unten an den Felswänden hinab lief und uns in den vergangenen Stunden als Trinkwasser gedient hatte, stammte aus diesem See, der an einigen Stellen jederzeit überzulaufen drohte. Nur fünf Meter links von unserer gegenwärtigen Position befand sich der Neer-artige, gurgelnde Abfluss in einem Felsspalt. – Jetzt verstand ich – ich musste mich zusammenreißen, um nicht Hals über Kopf wieder zu Karen hinabzusteigen und sie hier herauf zu zerren – heraus aus der Gefahrenzone. Der Abfluss dieses Sees war der unterirdische Strom, der zehn Meter tiefer wieder aus dem Fels austrat, direkt neben dem Absatz, auf dem wir die letzten zwei Tage überlebt hatten.
Ich sah Sturgis bestürzt an. Eine Laune des Zufalls hatte bisher verhindert, dass wir nicht schon längst von einem enormen Wasserfall weggewaschen worden waren. Der Felsen, auf dem wir standen, saß wie ein Korken in dem porösen Ufer des Sees. Wenn er sich auch nur ein wenig bewegte, würde die Erosionskraft des Wassers ausreichen, ihn aus seinem Halt zu spülen und Sekundenbruchteile später den Absatz mit Brachialgewalt überfluten – auf dem sich Karen und Sinistra befanden.
Unsere Blicke fanden sich. Er deutete nach unten, zu den beiden Frauen und schüttelte langsam den Kopf. Ich verstand. Wir würden Karen nicht noch weiter beunruhigen, indem wir ihr die bedrohliche Situation mitteilen würden. Wir konnten Sinistra nicht heraufbekommen, und ohne sie würde Karen nicht gehen.
»Weiter!« Sturgis ging um den Felsen herum, eine geeignete Stelle zum Hinaufklettern suchend.
»Warten Sie!«, sagte ich, reichte ihm eine Hand und lehnte mich über die Felskante, bis ich Karen sehen konnte. Sie stand am äußersten Rand des Absatzes und sah zu mir herauf. Ich riss mich zusammen, lächelte und reckte den Daumen in die Höhe. Sie winkte und bewegte mehrmals ihre Hände zu einem lautlosen Klatschen.
Sturgis zog mich zurück. » Los! «, mahnte er eindringlich und war bereits halb auf dem Felsen. Ich folgte ihm, machte ein paar Schritte in Richtung des ersten Baumstammes und rannte fast in den Hünen hinein, der unerwartet vor mir stehen geblieben war.
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