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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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dagegen sein werden. Die Facettenaugen verschwinden im Abfluss, der menschliche Schatten wird in die Kanalisation gespült, die zerfallenen Mauern des Aloisiushauses zerbröckeln in den Rohren, der fahle Greis versucht sich festzuhalten, gegen den Strom zu schwimmen, bevor auch er verschwindet, doch ich weiß, er wird wiederkommen. Das Rascheln des Bademantels nicht hören, die Schiebetür nicht, die Schritte nicht, nur Darius’ Aura spüren, als er sich zu mir stellt, meine Hände ergreift und sich an die Hüften legt. Solange ich die Augen geschlossen halte, kann ich zwanzig sein, seine Berührung und seinen Atem genießen, sein Gesicht, das er mir ganz nahe bringt. Solange ich die Augen geschlossen halte, kann ich ihn sehen, ohne dass sich meine alte Haut ins Bewusstsein drückt, mich in der Hütte fühlen, nicht in Ruinen. Ich kann die warme Nässe aufnehmen, die uns umhüllt, die Küsse, die er mir gibt, auf den Hals, auf die Brust, den Bauch …
          Kein Darius in Öl hängt an der Wand, doch sie sind alle da. Mit geschlossenen Augen kann ich in der Vergangenheit existieren, ihn umdrehen, mit Hilfe von Duschgel in ihn eindringen, Teil von ihm werden, in ihm sein, wie er seit fünfzig Jahren in mir ist, Teil von mir.
          Ich öffne die Augen erst, als ich die Schiebetür höre, Darius’ Schritte auf den Fliesen, das sich reibende Handtuch. Undeutlich kann ich ihn sehen, deutlich mich, die Leberflecke, die geöffneten Poren, die grauen Haare über der Haut. Ich möchte mich ekeln, aber ich kann es nicht, möchte mich ärgern, bin aber zu aufgewühlt und ausgelaugt, möchte mich schämen darüber, wie sehr es mir gefallen hat, aber die reine Schönheit des Erlebens siegt.
          »War es so schlimm?«, fragt er, als ich das Wasser abstelle.
          »Nein.«
          Er hüllt mich in das Handtuch, mit dem er sich abgetrocknet hat, und gibt mir einen Kuss. »Du bist es immer noch, egal, wie alt wir sind.«
          ›Du auch‹, möchte ich sagen, den Kuss erwidern, mit Darius durchs Haus tollen wie ein kleiner Junge, nackt bleiben, während wir Spiegeleier braten, Wein trinken, essen, fernsehen. Ich sage nichts. Es ist mir zu kalt, wenn ich nichts anhabe, selbst, wenn ich die Heizung voll aufdrehe. Darius bleibt im Morgenmantel, ich schlüpfe in meine Kleidung, bevor wir nach unten gehen.
          »Weshalb hast du mich beneidet?«
          Wir sitzen am Tisch, vor uns die Teller, es riecht nach Speck, nach Toast und Butter. Darius hängt etwas Eigelb an der Lippe, das er wegwischt, bevor er antwortet.
          »Um das, was du schaffen konntest. Dir einen Namen machen, berühmt werden, und vor allem: wunderbare Bilder.«
          Ich trinke einen Schluck Wein, spiele dabei mit dem Glas an meinen Lippen, schaue in Darius’ dunkle Augen, warte darauf, dass er weiter spricht. Mir fällt keine Erwiderung ein, mit der ich den liebevollen Neid bremse, das Lob abmildern könnte. Alles, was ich sagen will, würde zurückweisen, was er ehrlich meint.
          »Erinnerst du dich an dein Bild des nackten Darius in einer Gefängniszelle?«
          »Natürlich.«
          »Er stand mit dem Rücken zum Betrachter, das Gesicht zur Freiheit gewandt, die von Gitterstäben versperrt war. Zu sehen, aber nicht da. Anwesend, aber nicht erreichbar.«
          Ich nicke. Für mich hatte es die Ferne des Freundes bedeutet. Er war bei mir, doch nur als Geist, nicht zu greifen, nicht für mich da, doch mein Leben bestimmend, wie ein Gefängnis. Gleichwohl wusste ich um die viel politischere Interpretation, die es in den Feuilletons und in den Köpfen der Menschen erfahren hatte. 
          »Es traf genau die Situation der Homosexuellen zu der Zeit. Sie wurden verfolgt und bestraft, sie sehnten sich nach Freiheit und Liebe, beides schien so greifbar nah und war doch unerreichbar. Gleichzeitig waren sie in ihrer Sexualität gefangen, die man verdammte, und die sich für sie so natürlich und warm anfühlte. Sie machten sich strafbar und konnten nicht anders. Immer pendelten sie zwischen dem Wunsch, daraus auszubrechen und dem, es sich darin bequem machen zu dürfen.
          Du konntest Stellung beziehen, kämpfen. Darum habe ich dich beneidet. Du wurdest berühmt genug, offen bedroht und beschimpft zu werden, aber auch berühmt genug, Schutz zu genießen. Hätte man dich ins Gefängnis gesteckt, wären deine Bilder noch berühmter geworden. Du hast auf deine Weise einen Weg gefunden,

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