Corvidæ
Chloé einfach stehen.
„Mein Gott, Cat, jemand war in unserem Zimmer, als wir geschlafen haben!“
Ich zog sie hinter mir her, ging aber langsamer, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
„Ja“, sagte ich. „Jemand wollte das Schriftstück haben und hat es sich genommen.“
„Mist! Aber was willst du im Stall?“
„Ich muss nachsehen, ob die anderen Sachen noch da sind.“
Das Tor zum Stall stand weit offen. Wir blieben am Eingang stehen. Jacques fütterte die Pferde, Etienne war nirgends zu sehen.
„Du musst auf den Heuboden klettern.“ Ich deutete mit dem Kinn zur Leiter. „An der hinteren Wand steht eine Holztruhe. Sieh nach, ob sie noch da ist. Pass auf, der Deckel quietscht, öffne ihn vorsichtig. Bring eins der Papiere mit. Kriegst du das hin?“
„Hey, ich habe Bier aus Paps‘ Keller geschmuggelt, und Spickzettel in Gottharts Unterricht, also wen fragst du das?“ Sie zog die Augenbrauen hoch und ich grinste.
„Sicher, du machst das schon. Ich lenke Jacques ab, er mag mich. Wenn wir zurückkommen werde ich pfeifen, okay?“
„Na dann mal los, Dr. Watson!“
Lizzie schlenderte zu den Boxen, kraulte die Pferde am Hals, flüsterte mit ihnen. Ich winkte Jacques zu und er grinste bis zu den Ohren. Er schob eine Karre zur Hintertür hinaus. Ich gab Lizzie ein Zeichen und folgte ihm. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie die Leiter erreichte. Hoffentlich ging alles glatt. Diese Dokumente schienen wichtig zu sein, so wichtig, dass jemand in unser Zimmer eingedrungen war, um sie zu stehlen.
Ich beobachtete Jacques dabei wie er das schmutzige Stroh auf einen Misthaufen stapelte. Er hielt die Schultern gerade und war darauf bedacht, dass seine Armmuskeln gut zur Geltung kamen. Ich setzte mich auf eine Bank in die Sonne und zog mein Kleid hoch bis über die Knie. Die Sonnenstahlen verursachten ein angenehmes Kribbeln auf meiner Haut. Ich seufzte.
„Du siehst sehr hübsch aus, Cat.“
Jacques stützte sich auf die Mistgabel. Seine Blicke huschten an meinen Beinen hinauf. Ich zog das Kleid über meine Knie und der Junge errötete. Er wischte sich etwas Schmutz von seinem Hemd und warf die Mistgabel auf den Karren.
Ich ging zu ihm, blieb dicht neben ihm stehen. „Danke schön“, sagte ich und er lächelte mich an, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Sein Haar hing ihm wirr in die Augen und ich strich es aus der Stirn. Seine Haut war sonnengebräunt und weich, seine braunen Augen wurden noch eine Spur dunkler. Er hob die Hand und berührte meinen Arm, vorsichtig, wie man ein scheues Tier berührt, um es nicht zu verschrecken.
„Ich bin bald mit meiner Arbeit fertig.“ Er räusperte sich. „Möchtest du mit mir picknicken?“
„Ich weiß nicht …“ Ich sah in seine Augen. Ich sollte ihm keine Hoffnung machen.
„Schon gut. War ne blöde Idee.“ Er hob die Schubkarre an.
Ich drehte mich zum Stall und sah Lizzies Beine auf der Leiter. Schnell nahm ich Jacques Hand in meine. Er pustete den Atem aus.
„Ich würde gerne mit dir picknicken“, sagte ich. „Ein Picknick unter Freunden, okay?“
„Dann in einer Stunde vor dem Kaninchen?“
„Ich freu mich drauf!“
Pfeifend schob er seine Karre in den Stall und stellte sie in einer leeren Pferdebox ab. Er winkte Lizzie, die ihm entgegen kam, kurz zu und rannte zum vorderen Tor hinaus.
Ich zog meine Schwester auf die Bank und erst im Sonnenlicht bemerkte ich, wie blass sie war. Sie atmete schwer, ihre Hand fühlte sich eiskalt an.
„Was ist denn los?“ Mein Plusschlag erhöhte sich. „Hat dich jemand gesehen?“
Sie schüttelte den Kopf. „warum hast du mir das nicht erzählt?“, flüsterte sie.
„Was denn? Was sollte ich dir erzählt haben?“
„Die Bilder. Wer zum Geier hat mich da gemalt?“
Ich verstand kein Wort. Auf einem der Gemälde hatte ich mich selbst erkannt, aber auf keinem war Lizzie zu sehen gewesen.
„Du irrst dich, da war kein Bild von dir. Auf dem einen war ich zu sehen. Eine ältere Version von mir. Aber du warst doch nicht …“
„Was spielst du für ein Spiel, Cat? Willst du dich an mir rächen? Oder was soll das?“ Sie sprang von der Bank auf, ihre Hände zitterten, als sie die Leinwand aus ihrer Tasche holte. Sie starrte einen Moment auf das Gemälde, dann drückte sie es mir in die Hände. Ihre Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. Sie atmete schwer; durchbohrte mich mit ihren Blicken.
Vorsichtig drehte ich das Bild herum. Nebel waberte um eine breite Steinmauer. Mehrere Jungen
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