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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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wie er sich über die Bäume schob und die Lichtung in silbernes Schimmern tauchte. Der Uhu schrie einmal und ließ sich von seinem Ast fallen, glitt lautlos über unsere Köpfe hinweg und verschwand im dichten Wald.
    Ich drehte mich zu Agnès um. Ihre Augen hatten die Farbe von Seewasser bei Nacht angenommen, schimmerten feucht. Sie rieb ihre Wange an meiner. Ihr Atem fing sich in meinem Ohr, als sie meinen Namen flüsterte. Ihre Stimme war dunkel, wie ihre Bilder. Samtschwarz.
    Ich schluchzte auf. „Du kannst sprechen?“
    „Hier kann ich es.“
    „Wie kann das sein? Wie …“ Sie küsste mir die Fragen von den Lippen und ich schwieg.
    Sie flüsterte meinen Namen, wieder und wieder. Wir sanken auf den moosbedeckten Boden. Ihre Stimme verursachte mir Gänsehaut und ich spürte, wie Tränen in mir aufstiegen.
    „Wenn wir zurückgehen, dann wirst du wieder schweigen, nicht wahr?“
    „Ja.“
    „Dann lass uns hier bleiben.“
„Das geht nicht.“
    „Warum denn nicht?“
    Aus der Ferne hörte ich ein Lachen. Rabenlachen, wie ich es schon einmal gehört hatte. Agnès wollte sich meinem Griff entziehen, aber ich hielt sie fest. Ihrer Körper wand sich in meinen Armen.
    „Wir müssen zurück!“ Ihr Atem ging schwer, aber sie sprang auf. „Schnell, bitte stell jetzt keine Fragen.“
    Ich schüttelte den Kopf, ich wollte mit ihr reden, noch so vieles wissen.
    „Wir werden zurückkehren“, sagte sie. „Aber jetzt komm.“
    Ich nahm ihre ausgestreckte Hand und sie zog mich zum Rand der Lichtung. Agnès teilte einige Büsche. Die Dornen zerstachen unsere Arme und Beine, als wir hindurch schlüpften und den Eingang eines Tunnels erreichten. Darin war es stockfinster. Ich umklammerte Agnès Handgeleng wie eine Eisenklammer. Wieder hörte ich das Lachen, diesmal schien es schon viel näher zu sein. Agnès hielt inne, sah mir tief in die Augen und gab mir einen sanften Kuss.
    „Catrin“, flüsterte sie noch einmal, dann schob sie mich in den Tunnel.

Kapitel 8

    D ie Luft war dick wie Brei und ließ sich nur widerwillig einatmen. Ich fror, obwohl es nicht kalt war. Die Dunkelheit war so tief, dass sie keine Farbe hatte, nicht einmal schwarz. Ich blinzelte und klammerte mich an Agnès‘ Hand fest. Die Gleichmäßigkeit ihres Atmens beruhigte mich. Meine Füße bewegten sich, doch ich konnte nicht sagen, ob ich tatsächlich vorwärtsging. Ich fühlte mich eingeschlossen, abgeschlossen. Und doch war es, als befände ich mich in einer endlosen Weite.
    Ich stockte. War das ein Summen? Mein Puls beschleunigte sich und unsichtbare Hände drückten mir die Kehle zu. Ein Traum, etwas das ich vergessen hatte. Ich schloss die Augen. Der Gesang. Die Worte. „ But come ye back when summer's in the meadow , o r when the valley's hushed and white with snow …“
    Ohne darüber nachzudenken setzte ich ein. Meine Stimme zitterte. „ 'Tis I'll be there in sunshine or in shadow , o h, Danny boy, oh Danny boy, I love you so! “
    „Ach, da seid ihr ja! Gut, es wird bald dunkel und der Kakao ist fertig.“
    Ich öffnete die Augen. Die grauhaarige Frau hatte uns den Rücken zugewandt und nahm den Tonarm von der Platte. Die Stimme von Johnny Cash erstarb mit einem kurzen Kratzen. Sie steckte die Schallplatte zurück in die Hülle und stellte sie in den Ständer neben dem Plattenspieler. Langsam drehte sie sich um. Ihre Bewegungen malten bunte Schlieren in die Szene. Meine Knie zitterten. Ich spürte Agnès‘ Arm an meiner Hüfte. Meine Großmutter sah gedankenverloren aus dem Fenster. „Es wird Schnee geben.“
    Ich starrte gebannt in das zerfurchte Gesicht, hielt mich an dem schiefen Lächeln fest.
    „Ist alles in Ordnung, Catrin? Du siehst blass aus.“ Sie legte die Hand auf meine Stirn. „Ihr seid sicher ganz durchgefroren.“
    Ich nickte und versuchte gleichmäßiger zu atmen.
    „Ich habe einen Apfelkuchen im Ofen.“ Sie ging in die Küche. „Deckst du schon mal den Tisch?“, rief sie mir über die Schulter zu.
    Ich holte Tassen und Teller aus der Anrichte und stellte sie auf den dunklen Holztisch; strich die Tischdecke glatt. Auf der Eckbank lag der weinrote Hut mit der breiten Krempe auf einem Stapel Zeitungen. Ich nahm ihn an mich und schluchzte unterdrückt. Mein Kopf war leer, ich war nicht in der Lage zu sprechen, ich konnte nicht einmal klar denken. War das möglich, oder war ich vollkommen verrückt? Der Hut verströmte einen Hauch von Frühling. Ich drückte meine Nase in den rauen Stoff und atmete tief ein.

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