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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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bedeckt. Agnès legte ihren Kopf in den Nacken und fing einige Flocken mit der Zunge auf.
    Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete die klare kalte Luft ein. Meine Gedanken waren immer noch bei dem Mädchen. Auch wenn es nur eine von Großmutters Geschichten war, ihr Schicksal ließ mich nicht mehr los. Ob sie wohl entkommen würde? Und das Lachen, dem sie gefolgt war, war es das gleiche gewesen, wie das, das ich im Dorf gehört hatte? Ich schüttelte leicht den Kopf. Das ist nur eine Geschichte, sagte ich mir. Aber was war mit meinem Traum? Hatte ich mich daran erinnert, nach so langer Zeit?
    Agnès breitete die Arme aus, der Saum des Mantels flatterte im Wind, Schneeflocken tanzten um ihren schlanken Körper. Sie sah aus wie ein Engel. Oder wie ein Vogel. Zu gerne wäre ich mit ihr losgeflogen, hätte die Weite des Himmels gespürt. Ich lächelte , dazu brauchte ich nicht fliegen zu können. Ich steckte meine Arme unter ihren Mantel und schmiegte den Kopf an ihre Schulter. Sie hüllte uns unter dem Stoff ein. Wir standen inmitten der Kälte wie eine warme Insel. Mit einem plötzlichen Ruck riss Johnny die Leine aus meiner Hand und rannte in das angrenzende Waldstück. Ich versuchte zu pfeifen, aber meine Lippen waren kalt und ich brachte keinen Ton zustande. „Johnny!“, rief ich, aber er war schon in den dichten Büschen verschwunden.
    Wir standen im Lichtkegel der Außenbeleuchtung, dahinter war es stockfinster. Kein Mond erhellte die Umgebung, die Sterne waren von Wolken verdeckt. Rabennacht. Eine Kälte machte sich in meinen Knochen breit, die nicht von der Temperatur herrührte. Ich sah in Agnès Gesicht. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Blicke streichelten meine Haut. Ich musste aufhören diese Kindergeschichten zu ernst zu nehmen. Und ohne Johnny Cash wollte ich meiner Großmutter nicht unter die Augen treten. Der Hund war alles, was ihr von Großvater geblieben war. Und auch wenn er niemals weglaufen würde, er war nicht mehr der Jüngste, sein Geruchssinn ließ langsam nach, und wer wusste schon, ob er in dem Schneetreiben nicht die Orientierung verlor? Ich zog die Taschenlampe aus dem Mantel.
    „Ich muss ihn suchen gehen“, sagte ich und stapfte entschlossen auf den Waldrand zu.
    Ich schlug mich durch die Büsche und rief immer wieder nach dem Hund. Aus der Ferne meinte ich ein Bellen zu hören.
    Wie oft hatten wir als Kinder hier im Wald gespielt, Lizzie und ich. Wir waren Prinzessinnen und Abenteurer, Piraten und Forscher gewesen. Und manchmal musste Großmutter uns in die Realität zurückholen, so hatten wir uns in unser Spiel vertieft, so wirklich war uns alles erschienen. Ich stockte. Vor mir lag der Eingang zu unserem Labyrinth. Dicke Äste waren zu einer dreieckigen Pforte geschichtet, geradeso, als hätten wir es erst gestern gebaut. Und war es nicht erst gestern gewesen? Ich rieb mir über die Stirn. Mein Herz schlug schneller. Der Schein meiner Taschenlampe blieb an einem dicken Buchenstamm hängen. Das war sie, die Buche an der ich … Ich kniff mir schmerzhaft in die eisige Wange … an der das Mädchen auf ihre Verfolger gewartet hatte.
    Ein Rascheln. Ich drehte mich zu Agnès um, aber wo sie eben noch gestanden hatte, waren nur noch schwache Fußabdrücke zu sehen.
    „Agnès?“ Meine Stimme zitterte. „Bitte, das ist nicht witzig!“
    Ich folgte ihren Tritten, die kaum noch zu erkennen waren, und hörte wieder das Rascheln. Der Wind ebbte ab und für einen Moment war es ganz still. Dann schwoll das Rauschen an und eine Böe erfasste mich so plötzlich, dass ich fast gefallen wäre. Die Bäume schienen zu murmeln und durch die Zweige der niedrigen Büsche schimmerten Lichter. Waren das Stimmen, die sich näherten? Ich schlang meine Arme um den Oberkörper, unfähig mich zu bewegen, wartete ich. Dann bekam ich einen Stoß in den Rücken und fiel vornüber auf die Knie. Ich fuchtelte mit der Taschenlampe herum und wurde mit einem nassen Schlabberer mitten durchs Gesicht begrüßt. „Johnny!“, lachte ich erleichtert auf. „Erschreck mich doch nicht so!“
    Neben dem Hund erkannte ich Agnès‘ Beine. Sie nahm die Leine vom Boden auf und half mir auf die Füße.
    Ich drehte mich noch einmal um und leuchtete über den Eingang unseres Labyrinthes. Vielleicht steckte in den Geschichten mehr Wahrheit, als mir lieb war. Ich musste mich erinnern und dazu brauchte ich Großmutter Rose.
    „Gehen wir zurück zum Haus“, sagte ich.
    Als wir das Wohnzimmer betraten, fanden wir einen

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