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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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gedeckten Tisch vor. Aus den Boxen klang walk the line in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Ich drehte den Lautstärkeregler zurück und rief nach meiner Großmutter.
    Mein Atem kam in Wolken aus meinem Mund. Eine dünne Eisschicht überzog die Fensterscheiben. Die Gardinen bewegten sich. Johnny schnüffelte aufgeregt am Fußboden. Ich folgte ihm in die Küche. Dort war es eiskalt. Ich schloss das Fenster und rieb meine roten Hände aneinander. Auf der Arbeitsplatte lagen Großmutters Topflappen, daneben ihre zusammengeknüllte Schürze. Auf dem Herd köchelte eine Suppe. Langsam füllte sich der Raum mit Gemüseduft.
    „Großmutter?“, rief ich noch einmal, während ich zurück ins Wohnzimmer ging. Die Vorhänge bewegten sich immer noch. Irgendwo musste ein weiteres Fenster offen stehen. Langsam ging ich die Treppe hinauf und klopfte an Großmutters Schlafzimmertür. Keine Antwort. Ich spürte Agnès Körper hinter meinem und tastete nach ihrer Hand. Dann drückte ich die Klinke nach unten. Eine Windböe schlug mir ins Gesicht. Meine Wangen schmerzten vor Kälte. Im Zimmer war es stockdunkel, ich konnte nicht einmal das Bett erkennen. Mein Herz pochte mir bis zum Hals. Wenn jemand in dieser Kälte einschlief, würde er erfrieren. Meine Hände zitterten. Ich musste das Fenster schließen. Ich stieß die Tür weiter auf und dann fiel ich.

Kapitel 9

    „ W as willst du Princesse ?“
    Lizzie schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken an das Holz. Schweigend folgte sie den sanften Bewegungen des Schaukelstuhls. Etiennes Hände lagen auf den Armlehnen, in einer hielt er eine erloschene Pfeife. Gedankenverloren starrte er in den Kamin, in dem ein kleines Feuer flackerte und das Gesicht des Mannes in ein rötliches Licht tauchte.
    „Ich bin nicht in Stimmung“, knurrte er ohne sie anzusehen.
    Langsam stieß sie sich von der Tür ab und legte ein Holzscheit nach. Sie setzte sich neben den Cavalier auf den Boden und strich mit einem Finger über seinen Handrücken. Er ballte die Hand zu einer Faust zusammen, zog sie aber nicht zurück. Aus dem offenen Kamin qualmte es. Funken stoben auf den Holzboden, und das Feuer begann mit einem Knistern aufzulodern. Die Wärme kroch an Lizzies Beinen entlang. Sie legte ihre Stirn an Etiennes Unterarm und schloss die Augen.
    Die Kirchenglocke schlug. Disharmonisch, als wäre sie verstimmt. Lizzie sah zum Fenster, es war dunkel, es musste bereits später Abend sein.
    „Wer läutet eigentlich die Glocken?“, fragte sie. „Und warum so spät?“
    Etienne folgte ihrem Blick. „Manche Dinge dürfen nicht vergessen werden“, flüsterte er. „Auch wenn es besser wäre. Leichter.“ Er nahm einen langen Holzspan und entzündete ihn in den Flammen, hielt ihn an die Pfeife. Kleine Rauchwölkchen stiegen auf, verschleierten sein Gesicht. Ein schwaches Cognac-Aroma vermischte sich mit dem Feuerdunst.
    „Ja, manche Dinge sollten vergessen sein.“ Lizzie blinzelte und wischte sich über die Augen. „Es wäre toll, wenn man einfach ausradieren könnte, an was man sich nicht erinnern will. Auslöschen und neu anfangen.“
    Etienne stand auf und nahm eine Flasche und zwei Gläser von einem Regal neben dem Kamin, schenkte zweifingerhoch ein. Er setzte sich neben Lizzie auf den Boden und reichte ihr eins davon. Sie atmete den fruchtigen Duft des Weinbrands ein und nahm einen Schluck. Kirsche, ein wenig holzig. Wärme breitete sich in ihrem Magen aus. Sie fuhr mit den Fingern durch Etiennes zerzaustes Haar.
    „Neu anfangen“, wiederholte er ihre Worte. „Oder endlich beenden.“ Er trank sein Glas in einem Zug leer und schleuderte es in den Kamin. Die Scherben spritzen auf den Boden. Blitzschnell packte er Lizzie an den Schultern, umfasste ihren Hals, strich mit den Daumen über ihre Kehle. Seine Augen verengten sich. Lizzie rührte sich nicht, ihr Herz pulsierte in einem unhörbaren Technotakt. Etiennes Atem an ihren Lippen. Wilde Kirschen. Und seine Haut, die nach frischem Thymian schmeckte. Sie umfasste seine Handgelenke, löste die Hände von ihrem Hals und legte sie auf ihre Brüste.
    „Kann ich hier bleiben?“, fragte sie.
    Er strich sich die Haare aus der Stirn. Dann beugte er sich vor, sein Atem streifte ihr Gesicht. „Ist es das, was du willst, Elisabeth?“
    Seine Wangen fühlten sich kühl an. Sie fuhr die Linien an seinen Mundwinkeln nach; das stoppelige Kinn.
    „Ja.“
    Er stand auf, zog sie auf die Füße, seine Hände fuhren ihre Wirbelsäule entlang, seine

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