Cosm
Kollisionen. Jede einzelne Kollision wurde auf großen, rotierenden Laserdisks holographisch gespeichert. Die einlaufenden U-238-Kerne erschienen dabei als farbige Linien, die beim Aufeinandertreffen zu einem Schwarm von kleineren, nach allen Richtungen wild auseinanderspritzenden Strichen zerfielen. Jeder Aufprall ein prächtiger Blumenstrauß. Die Ziffern am Bildschirmrand zeigten die freiwerdenden Energiemengen und die Kollisionszeitpunkte an und zergliederten damit das schöne Bild so unerbittlich wie ein Biologe, der einen Frosch seziert. Die ganze Pracht wurde aus dünnsten Zeitscheibchen gewonnen, die ein menschliches Auge selbst dann nicht hätte wahrnehmen können, wenn man sie millionenweise nebeneinander aufgereiht hätte.
Menschen waren überhaupt viel zu langsam, viel zu primitiv, überlegte Alicia. Plump und schwerfällig wie große Tiere. Und doch konnten sie mit ihren elektrischen Skalpellen bis ins Herz des winzigsten Moments vordringen.
Und von dem Moment an lief alles aus dem Ruder.
Eine Stunde später rief Zak aus der Zählstelle: »Zählrate sinkt.« Als sie hinüberkam, war die Katastrophe bereits in vollem Gange.
Zak war sehr stolz gewesen, als man ihn mit der Überwachung der Teilchenströme betraute, glaubte er doch, damit eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Dabei rechnete im Grunde niemand mit Abweichungen oder gar Stockungen; seit den ersten Probeläufen hatte der Collider in punkto Zuverlässigkeit alle Erwartungenübertroffen. Aber wie oft hatte ein Postdoc hier schon Gelegenheit, sich wichtig zu fühlen?
»Wie bitte?« fragte ein Techniker. »Sie haben wahrscheinlich falsch abgelesen.«
Alicia sah sich den Datenstrom an und erstarrte. »Die Zählung ist um dreißig Prozent gefallen«, bestätigte sie.
»Und zwar ganz plötzlich«, sagte Zak.
»Sicher eine Störung im Computer«, meinte der Techniker.
»Und was für eine.« Alicias Stimme war schrill geworden.
Seit der Versuch richtig angelaufen war, hatte sich die Stimmung beruhigt. Nun begannen die Leute an den Computern zu murmeln, und alles drehte sich nach ihnen um.
KONTAKT ZUM TEILCHENSTROM VERLOREN? tippte Alicia ein und gab sich gleich selbst die Antwort. »Nein. Die Signale kommen gleichmäßig rein.«
»Sind solche Ausfälle normal?« fragte Zak.
»Klar«, sagte einer von den Computerleuten. »Das kann ein Dutzend Gründe haben.«
»Zum Beispiel?« beharrte Zak.
Alicia lächelte. Er lernte allmählich, wie man es anstellte, anderen Leuten die Informationen aus der Nase zu ziehen.
»Nicht kompatible Bauteile, Detektorversagen, Fehlerquellen gibt es in rauhen Mengen«, sagte der Computermann. »Wir werden schon finden, woran es liegt.«
Aber sie fanden nichts.
Die Zahl der Kollisionen im Schnittbereich der Teilchenströme sank weiter. Dabei war der Zufluß von Urankernen in das BRAHMS unverändert. Die umliegenden Magnetfelder blieben konstant. Doch die Ströme fanden nicht mehr zueinander. Bei dieser niedrigen Zählrate würde die Datenausbeute viel zu mager ausfallen.
Nach weiteren zwei Stunden verlor Alicia die Geduld. Inzwischen war die Zählrate auf wenige Prozentdes Wertes gesunken, der vor vier Stunden gemessen worden war. Nur selten erblühte noch eine Technicolor-Blume auf einem der großen Schirme. Alicia ging auf und ab, schüttete miserablen Kaffee in sich hinein, rief wieder und wieder die raffinierten Detektorüberwachungsprogramme auf, setzte ihren Marsch fort.
Der Chefkoordinator rief sie zu sich. Wenn die Teilchendichte sank, wurde man in der Zentrale unruhig und befürchtete massive Schäden für das ganze System. »Ich glaube, mit dem BRAHMS stimmt etwas nicht«, begann er taktvoll.
»Sieht so aus«, sagte sie. Mehr wollte sie auf keinen Fall zugeben.
»Das ist Ihr erster Einsatz. Ich schlage vor, Sie checken Ihre Anlage mal gründlich durch. Wir halten den Strom solange an.«
»Aber der Versuch ist auf zehn Stunden angesetzt!«
»Nur, wenn alles glattgeht.«
»Aber wir haben noch gar nicht richtig angefangen, und …«
»Wissen Sie was, Sie gehen mit Ihren Leuten jetzt einfach mal rein, vielleicht läßt sich der Fehler ja rasch beheben. Dann können wir sofort weitermachen.«
»Warum denn schon so früh aufgeben?« fragte Alicia, obwohl sie wußte, wie verdammt machtlos sie war.
5 Das BRAHMS konnte aus vielen verschiedenen Winkeln nach Spuren des Quark-Gluon-Plasmas suchen. Wenn zwei Atomkerne frontal zusammenstießen, entstand ein heißes ›Gas‹ aus Gluonen und Quarks. Durch
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