Cosm
hinzu.
Betrachten wir zunächst den darwinschen Schock .
Charles Darwin selbst faßt seine Evolutionstheorie als streng empirische Wissenschaft und in ausdrücklichem Abstand zu metaphysischen Horizonten in erkenntnistheoretisch sensibler Weise. 14
Darwins Argument lautet: Weil alle Arten eine derart große potentielle Fruchtbarkeit besitzen, daß ihre Populationsgröße unverhältnismäßig anwachsen würde, wenn sich alle Individuen fortpflanzen würden und weil zweitens weiterhin Populationen doch normalerweise Stabilität zeigen und weil drittens die natürlichen Ressourcen begrenzt und relativ konstant sind, schließt er zunächst, daß unter den Individuen einer Population ein harter Kampf ums Überleben stattfinden muß, aus dem möglicherweise nur wenige als Überlebende hervorgehen. Wenn man nach Darwin dann noch bedenkt, daß zwei Individuen niemals genau gleich sind, daß jede Population eine große Variabilität von Individuen aufweist und daß ein Teil dieser Variationen erblich ist, dann kann man folgern, daß das Überleben im Kampf ums Dasein nicht zufällig erfolgt, sondern zu einem großen Teil von den Erbbedingungen der Überlebenden abhängt. So entsteht ein natürlicher Ausleseprozeß, der im Verlauf vieler Generationen zu einer Transformation der Populationen, d. h. zu Evolution und Erzeugung neuer Arten führt.
Diese Evolutionstheorie kann sich in die durch Immanuel Kant in seiner frühen Schrift über die › Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels‹ (1755) zuerst entworfene und seit Albert Einsteins Entdeckung standpunktfreier Zeitmessung in der Speziellen Relativitätstheorie (1905) entfaltete neue Kosmologie einordnen, die ihren Gesprächsbereich zwischen dem ›Big Bang‹ 15 und dem alles beendenden ›Big Crunch‹ nach einer Gesamtzeit des Kosmos von ca. 59 Mrd. Jahren ansiedelt. Die Entwicklung des Menschen erscheint dann als ein räumlich wie zeitlich winziger Punkt im kosmischen Gesamtgeschehen 16 und noch dazu als eine Entwicklung als tierhaften Anfängen.
Aus dem Menschen als Ebenbild Gottes wird dann leicht ein in einen unüberschaubaren Kosmos hineingeworfenes findiges Tier.
In Wilhelm Bölsches Roman ›Die Mittagsgöttin‹ (1891) drückt der Held diese Angst vor den Konsequenzen des evolutiven Weltbildes so aus:
»Daß über uns nichts strahlt als ein schattenloser, leerer Himmel voll ewiger Erkenntnisöde, hinter dem die ungeheuren Gottheiten der Naturkräfte Tafeln für Gesetze schichten, in denen nichts steht als Zahl an Zahl, nichts von Menschenliebe und von Menschenherz.« 17
Wird moderner naturwissenschaftlicher Geist nicht nur als beängstigend erfahren, sondern zugleich auch noch verabsolutiert, bleibt für manchen Menschen in dieser Situation der Desorientierung nur der Schritt nach vorn, der Schritt, auf den einmal absolut gesetzten Naturwissenschaften eine die Angst erträglich machende ›Weltanschauung‹ zu begründen.
Wilhelm Bölsche schreibt so am Ende des zweiten Bandes seines großen Werkes über das › Liebesleben in der Natur. Eine Entwickelungsgeschichte der Liebe‹ (1900-1903):
»Aus dem ›Nichts‹ kommt ihr, in das ›Nichts‹ geht ihr. Dieses ›Nichts‹ zu verklären mit dem ewigen Entwickelungsgedanken, in ihm das Ganze zu ahnen, von dem wir nur die zufälligen paar Querschnitte sehen, durch die gerade unsere Existenzphase eben durchschneidet –, das ist zuletzt die wesentlichste Aufgabe aller Naturerkenntnis, aller Weltanschauung.« 18
Dabei ist es wichtig zu bedenken, daß der Inhalt des Wortes ›Verklärung‹ im 19. Jahrhundert ein Verstehen von Wirklichkeit betrifft, das den Gegenstand zwar ›verklärt‹ neu sieht, aber an der spezifischen Wirklichkeit, die ›verklärt‹ gesehen wird (hier das ›Nichts‹), eigentlich nichts ändert.
Wir müssen uns also seit Darwin und seit den modernen Kosmologen als Naturwesen einer langen kosmischen Naturgeschichte verstehen lernen. Aus der Heilsgeschichte, die sich auf die Sonderregion des jüdischen Lebensraumes und das christliche Abendland bezog, muß eine Heilsgeschichte der ganzen Menschheit und der kosmischen Weiten werden.
Der ›darwinsche Schock‹ verschärft somit den ›kopernikanischen Schock‹ um die Dimension der zeitlichen Unübersichtlichkeit und der ›tierischen Herkunft‹ des Menschen.
Zu dieser raumzeitlichen Orientierungsproblematik kommt nun im Verlaufe des 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts die tiefenpsychologische
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