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Cosmopolis

Cosmopolis

Titel: Cosmopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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abendliche Streifen, einen Hauch blutige Sonne. In seinem Leben waren Dinge geschehen.
    Eric gefiel der Gedanke, dass ein Mann mit einem verwüsteten Auge seinen Lebensunterhalt als Chauffeur verdiente. Als sein Chauffeur. Das machte es noch besser.
    Ihm fiel wieder ein, dass er urinieren musste. Er tat es im Auto, vornübergebeugt, und sah zu, wie die Schüssel nachher in ihr Gehäuse zurückklappte. Er wusste nicht, was mit dem Abwasser passierte. Vielleicht kam es in irgendeinen Tank auf der Unterseite des Autos, möglicherweise wurde es auch unter Verletzung von x Vorschriften direkt auf die Straße gekippt.
    Die Nebelleuchten des Autos strahlten. Der Fluss war nur zwei Blocks entfernt und trug seinen täglichen Bestand an Chemikalien und Zufallsmüll, schwimmenden Haushaltsgegenständen und der einen oder anderen Leiche, die zu Tode geknüppelt oder erschossen worden war, und alles geisterte ganz prosaisch gen Süden zur Spitze der Insel und der dahinter liegenden Meeresmündung.
    Die Ampel war rot. Auf der Avenue vor ihnen war der Verkehr äußerst spärlich, und er saß im Auto und begriff, wie seltsam es war, dass er bereitwillig wartete, und der Fahrer nicht minder, nur weil die Ampel in einer Farbe aufleuchtete und nicht in einer anderen. Aber damit beachtete er noch nicht den gesellschaftlichen Konsens. Er war geduldig gestimmt, sonst nichts, und vielleicht etwas nachdenklich, dass er jetzt sterblich allein war, ohne all seine Bodyguards.
    Das Auto überquerte die Tenth Avenue und fuhr an dem ersten kleinen Lebensmittelladen vorbei, dann am Lkw-Parkplatz, der leer dalag. Er sah zwei auf dem Bürgersteig geparkte Autos, sie waren mit zerrissener blauer Plane bedeckt. Ein streunender Hund lief herum, es gibt immer einen dünnen grauen Hund, der in den aufgequollenen Seiten einer Zeitung herumschnüffelt. Die Mülltonnen hier waren aus verbeultem Metall, keine aufgehübschten Gummiprodukte wie in den Straßen weiter östlich, Müll lag in offenen Kisten herum, bildete einen Fächer um einen umgekippten Einkaufswagen auf der Straße. Eine Stille sank herab, eine Leere, die nichts zu tun hatte mit der Stimmung der Straße zu dieser Stunde, das Auto fuhr an dem zweiten kleinen Lebensmittelladen vorbei, und er sah den Wall an den Bahngleisen, die unterhalb des Straßenniveaus verliefen, sah die über Nacht verrammelten Garagen und Karosseriewerkstätten, deren Stahlrollos mit Graffiti in Spanisch und Arabisch beschmiert waren.
    Der Friseurladen lag auf der Nordseite der Straße, gegenüber einer Reihe alter Backsteinhäuser. Das Auto hielt, und Eric saß da und dachte nach. Fünf, sechs Minuten lang. Dann knarrte die Tür auf, der Fahrer stand auf dem Bürgersteig und lugte hinein.
    »Wir sind da«, sagte er schließlich.
    Eric stand draußen und betrachtete die Mietshäuser auf der anderen Straßenseite. Er schaute sich das mittlere von fünf Gebäuden an und spürte ein einsames Frösteln, dritter Stock, Fenster dunkel, Feuerleiter ohne Pflanzen. Das Haus war trostlos. Es war eine trostlose Straße, aber früher hatten die Leute hier in lärmiger Enge gelebt, in Eisenbahnerwohnungen, so glücklich wie anderswo auch, dachte er, und das taten und waren sie immer noch.
    Sein Vater war hier groß geworden. Manchmal konnte Eric nicht anders, er musste herkommen und sich von der Straße anhauchen lassen. Er wollte sie fühlen, mit jeder reuevollen Nuance von Sehnsucht. Aber es war nicht seine eigene Sehnsucht oder Wehmut oder Nostalgie. Er war zu jung, um solche Dinge zu fühlen, das passte sowieso nicht zu ihm, und hier war weder sein Zuhause noch seine Straße gewesen. Er fühlte nur, was sein Vater an seiner Stelle gefühlt hätte.
    Der Friseurladen war geschlossen. Damit hatte er um diese Uhrzeit gerechnet. Er ging zur Tür und sah, dass im Hinterzimmer Licht war. Das musste so sein, egal um welche Uhrzeit. Er klopfte und wartete, und der alte Mann kam durch das Halbdunkel, Anthony Adubato, in seiner Arbeitskleidung, einem gestreiften weißen Kittel, kurzärmlig, mit weiten Hosen und Laufschuhen.
    Eric wusste, was der Mann sagen würde, wenn er die Tür aufmachte.
    »Also, dich kennt man ja auch nicht mehr.«
    »Hallo Anthony.«
    »Lang her.«
    »Lang her. Ich muss mir die Haare schneiden lassen.«
    »Wie siehst du aus. Komm mal rein, lass dich anschauen.«
    Er schnippte den Lichtschalter an und wartete, dass sich Eric in den einzigen verbliebenen Friseurstuhl setzte. Wo der andere gestanden hatte, war ein Loch

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