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Cosmopolis

Cosmopolis

Titel: Cosmopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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gegenüber gewohnt. Die fünf Kinder, die Mutter, der Vater, der Großvater, alle in einer Wohnung. Hört euch das an.«
    Eric hörte es sich an.
    »Acht Leute, vier Zimmer, zwei Fenster, eine Toilette. Ich höre die Stimme seines Vaters. Vier Zimmer, zwei mit Fenstern. Das betonte er gerne.«
    Eric saß auf dem Stuhl, träumte halb, flimmernde Szenen und Gesichter aus dem Kopf seines Vaters, Gesichter, die in dessen Schlaf schwebten oder in seinen flüchtigen Träumereien oder der letzten Morphiumruhe, eine Küche tauchte auf und verschwand wieder, Tisch mit Emailplatte, Flecken auf der Tapete.
    »Zwei mit Fenstern«, sagte Anthony.
    Beinahe hätte er gefragt, wie lang er geschlafen hatte. Aber das fragen die Leute immer. Stattdessen erzählte er den beiden von der glaubwürdigen Bedrohung. Er vertraute ihnen. Es war ein gutes Gefühl, jemandem zu trauen. Ein richtiges Gefühl, die Angelegenheit an diesem besonderen Ort offenzulegen, wo die verstrichene Zeit in der Luft hängt und feste Gegenstände und Männergesichter durchtränkt. Hier fühlte er sich sicher.
    Es war eindeutig, dass Ibrahim nichts davon erfahren hatte. Er sagte: »Aber wo ist in dieser Situation der Sicherheitschef?«
    »Ich habe ihm den Rest der Nacht freigegeben.«
    Anthony stand kauend an der Kasse.
    »Aber du hast Schutz, oder, im Auto.«
    »Schutz.«
    »Schutz. Weißt du nicht, was das bedeutet?«
    »Ich hatte eine Pistole, habe sie aber weggeworfen.«
    Ibrahim sagte: »Warum denn?«
    »Ich habe nicht so weit gedacht. Ich wollte keine Pläne machen oder Vorkehrungen treffen.«
    »Weißt du, wie sich das anhört?«, sagte Anthony. »Wie hört sich das an? Ich dachte, du hättest einen Ruf zu verlieren. Er zerstört einen Mann mit einem Blinzeln. Aber für mich hört sich das ziemlich fragwürdig an. Das soll Mike Packers Junge sein? Der eine Pistole hatte und sie wegwarf? Was ist das?«
    »Was ist das?«, sagte Ibrahim.
    »In diesem Teil der Stadt? Und du hast keine Waffe?«
    »Man muss bestimmte Vorkehrungen treffen, um sich zu schützen.«
    »In diesem Teil der Stadt?«, sagte Anthony.
    »Sobald es dunkel ist, kann man keine fünf Meter weit gehen. Wenn man nicht aufpasst, bringen sie einen ruck, zuck um.«
    Ibrahim sah ihn an. Ein ausdrucksloses Starren, entfernt, ohne Berührungspunkt.
    »Wenn man vernünftig mit ihnen umgeht, dauert es etwas länger. Dann reißen sie einem zuerst die Eingeweide raus.« Er sah durch Eric hindurch. Die Stimme war sanft. Der Fahrer war eine sanfte Gestalt in Anzug und Krawatte, er saß da, den Kuchen in der ausgestreckten Hand, und seine Bemerkungen waren eindeutig persönlich, reichten weit über diese Stadt hinaus, diese Straßen, die Umstände, um die es gerade ging.
    »Was ist mit deinem Auge passiert«, sagte Anthony, »dass es so verdreht ist?«
    »Ich kann sehen. Ich kann fahren. Ich bestehe die Prüfung.«
    »Weil meine Brüder waren beide Boxtrainer, vor Jahren. Aber so was habe ich noch nie gesehen.«
    Ibrahim schaute weg. Er wollte sich dem Ansturm von Erinnerung und Emotion nicht unterwerfen. Vielleicht fühlte er sich seiner Geschichte verpflichtet. Man kann vielleicht um eine Erfahrung herumreden, sie als Bezugspunkt und Analogie nehmen. Aber das Höllische selbst detailliert zu beschreiben, Fremden gegenüber, die nicken und vergessen, das muss sich wie ein Verrat am eigenen Schmerz anfühlen. »Du bist geschlagen und gefoltert worden«, sagte Eric. »Ein Armeeputsch. Oder die Geheimpolizei. Oder sie dachten, sie hätten dich exekutiert. Haben dir ins Gesicht geschossen. Dich liegen lassen, weil sie glaubten, du wärst tot. Oder die Rebellen. Die die Hauptstadt überrennen. Willkürlich Regierungsleute schnappen. Willkürlich Gewehrkolben in Gesichter rammen.«
    Er sprach leise. Auf Ibrahims Gesicht bildete sich ein schwacher Schweißfilm. Er wirkte argwöhnisch und auf alles gefasst, das hatte er in irgendeiner sandigen Ebene gelernt, siebenhundert Jahre, bevor er auf die Welt kam. Anthony biss von seinem Dessert ab. Sie hörten ihm beim Kauen und Reden zu.
    »Ich habe mein Taxi geliebt. Ich habe mein Essen in mich reingestopft. Ich bin zwölf Stunden am Stück gefahren, jede Nacht. Urlaub, vergiss es.«
    Er stand an der Kasse. Dann griff er nach unten und öffnete den Schrank unter der Ablage und holte ein paar Händehandtücher heraus.
    »Aber was habe ich zu meinem Schutz getan?«
    Eric hatte ihn schon mal gesehen, den alten pockennarbigen Revolver, der unten in der Schublade lag.
    Sie

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