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Cosmopolis

Cosmopolis

Titel: Cosmopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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bin nachts gefahren. Ich war jung. Was sollte mir schon passieren?«
    »Nachts ist nicht so gut, wenn du Frau und Kind hast. Außerdem kann ich dir sagen, tagsüber war es verrückt genug.«
    »Ich habe mein Taxi geliebt. Ich bin zwölf Stunden am Stück gefahren. Hab nur zum Pinkeln angehalten.«
    »Einmal ist ein Mann von einem anderen Taxi angefahren worden. Kam in mein Taxi geflogen«, sagte Ibrahim. »Im Ernst, flog durch die Luft. Krachte in die Windschutzscheibe. Mir direkt ins Gesicht. Überall Blut.«
    »Ich habe nie die Garage ohne mein Glasrein verlassen«, sagte Anthony.
    »Ich war in meinem früheren Leben kommissarischer Minister des Äußeren. Ich sagte zu ihm, gehen Sie da runter. Ich kann nicht fahren, wenn Ihr Körper auf meiner Windschutzscheibe liegt.«
    Ibrahims linke Gesichtsseite. Eric konnte nicht die Augen davon lassen. Ibrahims kollabiertes Auge faszinierte ihn auf kindliche Weise, und er starrte jenseits aller Scham. Das Auge drehte sich von der Nase weg, die Augenbraue war gerade, leicht nach oben gezogen. Eine erhabene Narbennaht zog sich über das Lid. Doch obwohl das Lid fast geschlossen war, war noch ein Restzucken im Augapfel festzustellen, zerfließendes Eiweiß mit Blutsprenkeln. Das Auge hatte eine Art Autonomie, eine eigene Persönlichkeit, und das gab dem Mann etwas Gespaltenes, ein beunruhigendes Alternativ-Ich.
    »Ich habe am Steuer gegessen«, sagte Anthony und wedelte mit dem Essenskarton. »Ich hatte Sandwiches in Alufolie dabei.«
    »Ich habe auch am Steuer gegessen. Konnte es mir nicht leisten, die Fahrt zu unterbrechen.«
    »Wo hast du gepinkelt, Ibrahim? Ich habe unter die Manhattan Bridge gepinkelt.«
    »Ich auch, genau da.«
    »Ich habe in Parks und Seitengassen gepinkelt. Einmal auf einem Haustierfriedhof.«
    »In mancher Hinsicht ist es nachts besser«, sagte Ibrahim. »Ganz sicher.«
    Eric hörte abwesend zu, langsam wurde er schläfrig. Er trank seinen Likör aus einem verschrammten Whiskyglas. Als er aufgegessen hatte, legte er den Löffel in den Karton und setzte den Karton vorsichtig auf dem Arm des Stuhls ab. Stühle haben Arme und Beine, die eigentlich anders heißen sollten. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
    »Ich war hier, was«, sagte Anthony. »Vielleicht vier Stunden am Tag, hab meinem Vater beim Haareschneiden geholfen. Nachts hab ich mein Taxi gefahren. Ich hab mein Taxi geliebt. Ich hatte einen kleinen Ventilator, der mit Batterie lief, denn Klimaanlage damals, vergiss es. Ich hatte meinen Trinkbecher mit einem Magneten am Armaturenbrett.«
    »Ich hatte mein Steuer gepolstert«, sagte Ibrahim. »Sehr hübsch, Zebra. Und meine Tochter auf ihrem Foto am Rückspiegel.«
    Mit der Zeit wurden die Stimmen zu einem einzigen Vokal, und das würde sein Fluchtmittel sein, ein gehauchter Weg unter dem langen Grabtuch des Wachseins hervor, das so viele Nächte geprägt hatte. Langsam versank er, nickte weg und spürte eine Frage, die irgendwo im Dunkeln bebte. Gibt es etwas Einfacheres als einzuschlafen?
    Zuerst hörte er Kaugeräusche. Er wusste sofort, wo er war. Dann schlug er die Augen auf und sah sich im Spiegel, während sich der Raum ringsum zusammenballte. Er blieb an dem Anblick hängen. Am Auge verfärbte es sich veilchenhaft, wo die Tortenkruste ihn getroffen hatte. Auf der Kamerawunde an der Stirn saß maulbeerfarbener Schorf. Da war der schäumende Haarschopf, wild und verfitzt, irgendwie beeindruckend, und er nickte sich zu, als er all das wahrnahm, frontal und direkt, und sich erinnerte, wer er war.
    Der Friseur und der Fahrer teilten sich einen Nachtisch aus fein geschichtetem Blätterteig, üppig gefüllt mit Honig und Nüssen, jeder hielt ein rechteckiges Stück davon auf der Handfläche.
    Anthony schaute Eric an, sprach aber zu Ibrahim oder zu ihnen beiden, sprach zu den Wänden und Stühlen.
    »Ich hab diesem Burschen seinen ersten Haarschnitt verpasst. Er wollte nicht auf dem Autositz bleiben. Sein Vater versuchte, ihn da reinzuklemmen. Und er immer nein nein nein nein. Also hab ich ihn genau da hingesetzt, wo er jetzt auch sitzt. Sein Vater hielt ihn fest«, sagte Anthony. »Ich habe seinem Vater die Haare geschnitten, als er klein war. Und dann ihm.«
    Er sprach zu sich selbst, zu dem Mann, der er gewesen war, Schere in der Hand, eine Million Schöpfe schneidend. Er schaute Eric weiter an, der wusste, was gleich kommen würde, und wartete.
    »Sein Vater ist mit vier Geschwistern aufgewachsen. Sie haben gleich da

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