Cotton-Malone 03 - Der Pandora-Pakt
Symptome auftraten. Eine Blutprobe hatte bestätigt, dass er 65-G in sich trug. Vincenti hatte sich Eastons Erkrankung zunutze gemacht, um die Symptome des Virus beim Menschen zu studieren, und war zu dem Schluss gelangt, dass es sich bei dem Organismus um keine effiziente biologische Waffe handelte. Vincenti hielt das Virus für zu unberechenbar und zu langsam.
Er schüttelte den Kopf.
Erstaunlich, wie unwissend er damals gewesen war.
Es kam ihm wie ein Wunder vor, dass er überlebt hatte.
Er war wieder in seinem Hotelzimmer im Intercontinental; in Samarkand brach allmählich der Tag an. Er musste sich ausruhen, war von seiner Begegnung mit Karyn Walde noch total überdreht.
Er musste an den alten Heiler denken.
War das 1980 gewesen? Oder 1981?
Im Pamirgebirge, ungefähr zwei Wochen vor Eastons Tod. Er hatte das Dorf davor schon einige Male besucht und versucht, so viel wie möglich von dem alten Mann zu erfahren. Der Alte war mittlerweile bestimmt gestorben. Selbst damals war er schon sehr betagt gewesen.
Aber dennoch.
Der alte Mann sprang geschickt wie eine Katze mit lederharten Fußsohlen barfuß den Berg hinauf. Vincenti folgte ihm, und obwohl er festes Schuhwerk trug, taten ihm die Knöchel und Zehen weh. Es gab keine flachen Stellen. Der Fels war höckrig wie ein Gewirr von gnadenlos scharfen Fahrbahnschwellen. Das Dorf, das fast tausend Meter über dem Meeresspiegel lag, war nun eine Meile entfernt, und ihre Wanderung führte sie noch weiter bergauf.
Der Mann war ein traditioneller Heiler, eine Mischung aus Hausarzt, Priester, Wahrsager und Zauberer. Konnte kaum Englisch, sprach aber ganz passabel Chinesisch und Türkisch. War fast zwergenhaft klein, hatte europäische Gesichtszüge und einen Mongolenbart. Bekleidet war er mit einer golddurchwirkten Steppdecke und einer Schädelkappe. Im Dorf hatte Vincenti zugesehen, wie der Mann die Dorfbewohner mit einem Gebräu aus Wurzeln und Pflanzen behandelte, das er nach jahrzehntelanger Erfahrung mit Versuch und Irrtum fachmännisch mischte.
»Wo gehen wir hin?« , fragte Vincenti schließlich.
»Dorthin, wo du Antwort auf deine Frage erhältst und das Heilmittel findest, das deinen Freund vom Fieber befreit. «
Um sie herum bildete eine weiße Gebirgskette ein Panorama unberührter Gipfel. Über den höchsten Erhebungen standen Gewitterwolken. Silberstreifen, herbstliche Rottöne und dichte Walnussgehölze gaben der strengen Landschaft ein wenig Farbe. Irgendwo in der Ferne hörte man Wasser rauschen.
Sie kamen zu einem Felsvorsprung, und Vincenti folgte dem alten Mann durch eine purpurrote Gesteinsader. Von seinen Studien wusste er, dass das Gebirge hier noch immer arbeitete und sich jedes Jahr etwa fünf Zentimeter weiter nach oben schob.
Irgendwann traten sie in ein von Felsen umschlossenes Oval. Es gab kaum Licht, und Vincenti griff nach der Taschenlampe, die er auf Aufforderung des alten Mannes mitgenommen hatte.
Zwei etwa drei Meter breite Becken öffneten sich im Felsboden. In einem dieser Becken blubberte und schäumte es – thermische Energie. Vincenti hielt die Lampe näher an die Becken und bemerkte deren verschiedene Farbtöne. Das aktive Becken war rötlich braun, das ruhige Becken meergrün.
»Das Fieber, das du beschreibst, ist nicht neu« , sagte der alte Mann. »Seit vielen Generationen ist bekannt, dass es von Tieren übertragen wird. «
Vincenti war hierhingeschickt worden, um die Yaks, die Schafe und die riesigen Bären, die die Region bevölkerten, genauer zu erforschen. »Woher weißt du das?«
»Wir beobachten einfach, was geschieht. Aber das Fieber wird nur manchmal von den Tieren übertragen. Wenn dein Freund das Fieber hat, wird das hier ihm helfen. « Der alte Mann deutete auf das grüne Becken, auf dessen ruhiger Wasseroberfläche ein paar Schwimmpflanzen trieben. Sie sahen aus wie besonders buschige Seerosen, und ihre Blüte reckte sich dem schwachen Sonnenlicht entgegen. »Diese Blätter werden ihn retten. Er muss sie kauen. «
Vincenti tunkte zwei Finger ins Wasser und führte sie an die Lippen. Es schmeckte nach nichts. Er hatte erwartet, dass das Wasser eine Spur Kohlensäure enthielt, wie das sonst bei Quellen in dieser Gegend der Fall war.
Der Mann kniete sich hin und trank Wasser aus der hohlen Hand. »Es ist gut« , sagte er lächelnd.
Auch Vincenti trank. Das Wasser war frisch und warm wie eine Tasse Tee. Also trank er noch mehr davon.
»Die Blätter werden ihn heilen. «
Er musste mehr erfahren.
Weitere Kostenlose Bücher