Cotton Malone 05 - Der Korse
wenig.
Ashby hatte von all dem noch nichts gehört und war ebenso neugierig, wie Lyon es zu sein schien.
»Die Bibel«, erklärte Caroline. »Napoleon hat die Bibel verwendet.«
70
Malone sah sich jedes Gesicht der versammelten Gemeinde aufmerksam an. Sein Blick wanderte zur Prozessionstür am Haupteingang, durch die noch mehr Menschen hereinschlenderten. An einem Weihwasserbecken blieben viele stehen, um den Finger einzutauchen und sich zu bekreuzigen. Er wollte sich gerade abwenden, als ein Mann hereinfegte, ohne das Becken zu beachten. Er war klein, etwas blässlich und hatte dunkles Haar und eine lange Adlernase. Er trug einen knielangen, schwarzen Mantel und Lederhandschuhe. Sein Gesicht war zu einem geradezu unangenehm feierlichen Ausdruck erstarrt. Über seinen Schultern hing ein vollgepackter Rucksack.
Ein Priester und zwei Ministranten traten vor den Hochaltar.
Eine Lektorin stellte sich ans Lesepult und bat um die Aufmerksamkeit der Gläubigen. Die Stimme der Frau drang laut aus den Lautsprechern.
Die Menge verstummte.
Malone bewegte sich in Richtung Altar und ging dabei zwischen den Leuten hindurch, die jenseits der Bänke im Querschiff standen und dem Gottesdienst lauschten. Zum Glück herrschte in keinem Querschiff Gedränge. Er erblickte Langnase, der sich im gegenüberliegenden Querschiff durch die Menge schob, wobei er immer wieder hinter einer der Säulen verschwand.
Noch eine Person weckte Malones Neugierde. Auch sie befand sich im gegenüberliegenden Querschiff. Der Mann hatte olivbraune Haut und kurzes Haar. Er trug einen zu großen Mantel und hatte keine Handschuhe an. Malone verfluchte sich dafür, dass er diese Situation zugelassen hatte. Unvorbereitet und planlos ließ er sich von einem Massenmörder manipulieren. Vielleicht jagte er einfach nur Gespenstern nach, die sich als reine Illusion erweisen würden? Nein, so leitete man keine Operation!
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann mit der olivbraunen Haut.
Die rechte Hand des Mannes steckte in seiner Manteltasche, der linke Arm hing herunter. Sein nervöser Blick gefiel Malone gar nicht, trotzdem fragte er sich, ob sein Misstrauen nicht irrational war.
Eine laute Stimme störte den feierlichen Gottesdienst.
Eine Frau. Mitte dreißig, dunkles Haar, grobe Gesichtszüge. Sie stand in einer der Kirchenbänke und schrie den Mann neben sich an. Malone schnappte ein paar französische Worte auf.
Ein Streit.
Sie brüllte noch etwas und stürzte sich dann aus der Kirchenbank.
Sam betrat Saint-Denis geduckt und hoffte, dass keiner ihn entdeckte. Drinnen war alles still. Von Thorvaldsen, Ashby oder Peter Lyon war nichts zu sehen.
Er war unbewaffnet, aber er konnte nicht zulassen, dass sein Freund dieser Gefahr allein entgegentrat. Es wurde Zeit, dass er sich bei dem Dänen revanchierte.
In dem düsteren Licht war wenig zu erkennen, und Regen und Wind von draußen erschwerten das Hören. Er blickte nach links und erkannte Thorvaldsens vertraute Gestalt, die geduckt bei einer dicken Säule stand.
Er hörte Stimmen, die von der Mitte der Kirche zu ihm drangen.
Einzelne Worte blitzten auf.
Im Licht bewegten sich drei Gestalten.
Er konnte es nicht riskieren, sich zu Thorvaldsen zu schleichen, und so huschte er geduckt ein paar Schritte nach vorn.
Ashby wartete darauf, dass Caroline erklärte, was Napoleon getan hatte.
»Genauer gesagt, er hat Psalmen verwendet«, fuhr Caroline fort. Sie zeigte auf das erste Zahlenpaar.
CXXXV II
»Psalm 135, Vers 2«, sagte sie. »Ich habe den Text aufgeschrieben.«
Sie suchte in ihrer Manteltasche und holte einen weiteren Zettel hervor.
»›Die ihr steht im Hause des Herrn, in den Vorhöfen am Haus unsres Gottes.‹«
Lyon lächelte. »Raffiniert. Machen Sie weiter.«
»Die nächsten beiden Zahlen beziehen sich auf Psalm 142, Vers 4. ›Ich blicke nach rechts und schaue aus.‹«
»Woher wissen Sie …«, begann Lyon, doch ein Geräusch in der Nähe des Hauptaltars und der Tür, durch die sie eingetreten waren, erregte seine Aufmerksamkeit.
Er griff mit der rechten Hand nach seiner Waffe und fuhr herum, um sich der Herausforderung zu stellen.
»Hilfe«, schrie Caroline. »Hilfe. Hier ist ein Mann mit einer Pistole.«
Lyon richtete die Waffe auf Caroline.
Ashby musste handeln.
Caroline wich zurück, als könnte sie der Bedrohung so entgehen, und in ihren Augen glühte eine schreckliche Angst.
»Es wäre dumm, sie zu erschießen«, bemühte sich Ashby. »Sie ist die
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