Cotton Malone 05 - Der Korse
Gewalt.
Die betrachtete sie als Mittel zu beinahe jedem Zweck.
Er persönlich hatte gegen den Einsatz von Gewalt nichts einzuwenden – diese Nacht war der Beweis gewesen, wie nötig die manchmal war –, aber er mäßigte sich in ihrer Anwendung.
»Wie war Ihr Wochenende bisher?«, fragte ihn Larocque.
»Ich hatte eine schöne und friedliche Bootsfahrt auf dem Mittelmeer. Ich liebe meine Yacht. Sie ist ein Vergnügen, das ich leider nur selten genieße.«
»Mir wäre so etwas viel zu langsam, Graham.«
Beide liebten sie ihr jeweiliges Spielzeug. Larocque schätzte Flugzeuge – er hatte von ihrem neuen Gulfstream gehört.
»Kommen Sie zu dem Treffen am Montag?«, fragte sie.
»Wir sind jetzt auf dem Weg nach Marseille. Dort nehme ich den Flieger.«
»Dann sehe ich Sie also.«
Er legte auf.
Er und Larocque waren ein richtiges Team geworden. Er war ihrer Gruppe vor vier Jahren beigetreten und hatte seine Einstandsgebühr von zwanzig Millionen Euro bezahlt. Unglückseligerweise hatte sein finanzielles Portfolio seit damals schwer gelitten, was ihn gezwungen hatte, die Reserven seines Familienvermögens gründlich anzuzapfen. Sein Großvater hätte ihn für das Eingehen solch törichter Risiken schwer getadelt. Sein Vater hätte gesagt: Na und? Nimm noch mehr. Dieser Widerspruch erklärte in vielerlei Hinsicht seine gegenwärtige finanzielle Kalamität. Beide Männer waren schon lange tot, aber noch immer versuchte er, es beiden recht zu machen.
Als die Retter der verlorenen Antiquitäten aufgeflogen waren, hatte er alle Hände voll zu tun gehabt, sich Europol vom Hals zu halten. Zum Glück waren die Beweise mager gewesen, und er hatte darüber hinaus über gute politische Beziehungen verfügt. Sein privater Kunstschatz war unentdeckt geblieben, deshalb besaß er ihn immer noch. Leider konnte er diesen kostbaren Hort nicht zu Geld machen.
Doch zum Glück verfügte er jetzt über einen ordentlichen Vorrat an Gold.
Das Problem war also gelöst.
Zumindest für die vorhersehbare Zukunft.
Er bemerkte, dass das Buch des Korsen – Napoleon, von den Tuilerien bis St. Helena – neben ihm auf einem Stuhl lag. Einer der Stewards hatte es aus dem großen Salon gebracht, zusammen mit seiner Brieftasche, die jetzt wieder voller Euros war.
Er nahm das Buch zur Hand.
Wie war ein ganz normales Kind bescheidener korsischer Eltern zu solcher Größe aufgestiegen? Auf seinem Höhepunkt umfasste das französische Imperium hundertdreißig départements, verfügte über eine Truppenzahl von sechshunderttausend Mann, beherrschte siebzig Millionen Untertanen und war in Deutschland, Italien, Spanien, Preußen und Österreich auf eindrucksvolle Weise militärisch präsent. Auf seinen Eroberungszügen hatte Napoleon den gigantischsten Schatz in der Geschichte der Menschheit angehäuft. Von jeder Nation, die er eroberte, sammelte er in einem nie dagewesenen Ausmaß Beute ein. Kostbare Metalle, Gemälde, Skulpturen, Schmuck, königliche Insignien, Gobelins, Münzen – alles und jedes, was Wert besaß, wurde für den Ruhm Frankreichs beschlagnahmt.
Vieles davon war nach Waterloo zurückgegeben worden.
Aber nicht alles.
Was übrig geblieben war, war zur Legende geworden.
Er schlug das Buch bei einem Abschnitt auf, den er vor ein paar Tagen gelesen hatte. Gegen eine Anzahlung auf die versprochene eine Million Euro hatte Gustave ihm bereitwillig seine Ausgabe überlassen. Der Autor des Buchs, Louis Étienne Saint-Denis, war von 1806 bis 1821 Napoleons Kammerdiener gewesen. Er war freiwillig mit Napoleon ins Exil gegangen, erst auf Elba und dann auf St. Helena. Er kümmerte sich um Napoleons Bibliothek und erstellte nach Diktat Briefe, da die Schrift des Kaisers fürchterlich war. Nahezu alle Aufzeichnungen von St. Helena waren in seiner Handschrift verfasst. Saint-Denis’ Erinnerungsbuch hatte Ashbys Interesse geweckt. Insbesondere ein Kapitel hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er fand die Seite schnell wieder.
Seine Majestät hasste St. Helena, einen britischen Flecken auf der Weltkarte, westlich von Afrika, von Wind und Regen gepeitscht und von steilen Klippen umgeben. Als Napoleon 1815 sein Inselgefängnis sah, dachte er das gleiche wie während seiner gesamten Gefangenschaft: »Schändlich. Kein erfreulicher Ort. Ich wäre besser in Ägypten geblieben. «
Doch trotz der Prüfungen, die Napoleon ertragen musste, war die Erinnerung an seine einstige Macht stets ein angenehmer Traum für ihn. »Ich habe meinen ganzen Ruhm
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