Couchgeflüster
war ich tatsächlich angstfrei. Doch als ich dann eine normale Linienmaschine bestieg, war die Angst wieder da. Aber ich fliege seit Jahren durch die Lande und hatte niemals Angst. Und ganz plötzlich, von einem Flug zum nächsten, rast mein Herz, mir wird schwindelig, und meine Nerven liegen blank. Ich kriege schon beim Einsteigen kaum noch Luft.» Panisch hält er sich jetzt an den Armlehnen seines Stuhls fest.
Das wird ja immer schlimmer: Ben hat eine Phobie gegen die Farbe Weiß, retrograde Amnesie und eine plötzlich aufgetretene Flugangst. Am liebsten würde ich in den Schreibtisch beißen! Aber ich bin die Therapeutin. Ich muss souverän sein.
Möglichst unauffällig versuche ich, durchzuatmen und nicht selbst in Panik auszubrechen, da dringt Bens nicht weniger verzweifelte Stimme zu mir durch.
«Wirst du mir helfen können?»
Es klingt, als sähe er in mir seine einzige Hoffnung. Aber ich kann nicht antworten. In meinem Hals steckt ein dicker Kloß, der noch dicker werden wird, je länger ich hier die Psychotante mime.
Nachdenklich streiche ich über meinen Haarknoten. Was für eine bescheuerte Verzweiflungsgeste. Eine gutsitzende Frisur wird mir ja wohl kaum weiterhelfen.
«Oder ist so was unheilbar?», hakt Ben nach.
Puh, mir wird ganz schwindelig. Was weiß ich schon über Amnesien? Nichts!
Eilig nehme ich einen Schluck Wasser und wünschte, es wäre hochprozentiger Schnaps. Als ich das Glas abstelle, fällt mir einer meiner Lieblingssprüche ein: Das Unmögliche versuchen, damit das Mögliche möglich wird!
«Ähm, selbstverständlich kann ich dir helfen», verkünde ich mit fester Stimme und füge im Stillen hinzu: Keinen blassen Schimmer, wie ich das anstellen soll, aber vor mir sitzt mein Traummann und ist offensichtlich total verzweifelt. Welche Frau würde da nein sagen?
Ben stößt einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. «Danke, das beruhigt mich. Was meinst du, wie lange es dauern wird?»
«Hmm», murmele ich und blicke geschäftig auf meine Armbanduhr, als könne ich die Antwort darauf ablesen. «Das lässt sich schwer voraussagen, denn ich habe da ja auch noch diese …» Beinahe hätte ich Yogastunden gesagt. Im letzten Moment kriege ich die Kurve: «… diese anderen Patienten.»
Ben nickt beeindruckt. «Natürlich. Kannst du mich denn trotzdem dazwischenschieben?»
«Keine Sorge», beruhige ich ihn. «Du bist der interessanteste Fall, der mir seit langem begegnet ist. Den würde ich mir nie entgehen lassen.»
Eine Minisekunde lang habe ich den Eindruck, als würde mir Ben nicht ein einziges meiner hochtrabenden Worte glauben. Doch dann nickt er zu meiner eigenen Überraschung und erklärt schmunzelnd: «Hört sich toll an. Aber lieber wär’s mir, wenn ich mich wieder erinnern könnte.»
«Das wirst du», verspreche ich kühn und erhebe mich. «Für heute müssen wir aber leider Schluss machen. Wenn es dir morgen passt, hätte ich um zwei Uhr wieder einen freien Termin.»
Er schiebt den Stuhl zurück.
Mein
Patient!
«Danke, Ella, den nehme ich gerne.»
An der Wohnungstür verabschieden wir uns mit einem Händedruck.
«Also dann, bis morgen», sage ich vergnügt und merke, wie meine Stimme vor Aufregung vibriert. Schon morgen werde ich ihn wiedersehen!
Aber, Moment mal. Wird er unsere Verabredung auch nicht vergessen?
«Vielleicht solltest du dir den Termin notieren», schlage ich vor.
«Das ist ja das Merkwürdige.» Ben drückt meine Hand einen Moment länger als nötig. «Mit der Gegenwart habe ich keine Probleme. Nur in meiner Vergangenheit klafft eine Lücke.»
Verdammter Mist, ich gehöre schließlich auch zu seiner Vergangenheit! Aber das wird sich ändern. Schon bald werde ich wieder zu seiner Gegenwart gehören. Und vor allem zu seiner Zukunft. So wahr ich Dr. Nitsche bin!
Als Ben meine Hand loslässt und den Hausflur betritt, hält gerade der Lift.
Huch!
Das wird doch nicht Phillip sein, der verfrüht nach Hause kommt?
Ich werfe einen verstohlenen Blick auf meine Armbanduhr. Nein, Phillip müsste noch fliegen üben, beruhige ich mich.
Hoffentlich ist es kein Nachbar, der mich mit Nelly anspricht und sich über mein ungewohntes Aussehen wundert? Ich kann es bereits spüren: Gleich gibt’s eine Katastrophe.
Knarrend öffnet sich die Aufzugtür, und eine sehr attraktive Brünette tritt heraus. Sie blickt sich kurz um und kommt dann fragend auf mich zu:
«Dr. Nitsche?»
10
Hilfe! Ich bin reif für die Couch! Noch mehr Patienten, und ich
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