Crazy Moon
Ging es ihr schlecht, legte sie meistens ›Led Zeppelin Four‹ auf, eine Platte, die Morgan nicht ausstehen konnte; für sie war das Kiffermusik und außerdem erinnerten sie die Songs an irgendeinen Ex-Freund. Als ich eines Morgens auf der Veranda des kleinen weißen Hauses stand und auf Morgan wartete, erhaschte ich einen Blick auf ihre CDs. Zusammen besaßen sie gigantische Mengen. Überall im Haus lagen CDs rum: auf dem Fernseher, den Lautsprecherboxen der Anlage, dem Wohnzimmertisch, einfach überall, sogar auf dem Fußboden. Sie markierten richtige Trampelpfade von einem Zimmer zum nächsten.
Morgan musste zwei Stück – ich glaube, George Jones und Talking Heads – mit dem Fuß beiseite schieben, sonst hätte sie die Haustür gar nicht mehr schließen können. Sie bemerkte meinen Blick auf die CDs und erklärte |96| nüchtern: »Wir sind im Columbia-Musikclub. Zwölf Stück für einen Penny. Die Leute hassen uns.«
Morgan und Isabel stritten sich per Post mit Columbia herum. Ständig schrieben oder erhielten sie wütende Briefe. Nichtsdestotrotz trafen dauernd neue CD- und Kassettenlieferungen ein. Sie waren Isabels ständiger Begleiter. Wenn sie, meistens auf den allerletzten Drücker vor Beginn ihrer Schicht, ins Last Chance stürmte, klemmten unweigerlich zwei, drei frisch eingetroffene CDs unter ihrem Arm.
Wenn ich nachts aus dem Fenster zu meinem Beobachtungsposten aufs Dach krabbelte, hörte ich als Erstes die Musik, die zu mir empordrang. Für gewöhnlich waren die beiden auf ihrer Veranda. Die Eingangstür stand offen, das Licht aus dem Wohnzimmer beleuchtete sie von hinten. Beide waren barfuß, Isabel rauchte und sie teilten sich eine Sechserpackung Bier, während sie einander gegenübersaßen. In regelmäßigen Abständen stand eine von beiden auf, ging hinein und legte eine neue CD auf. Und jedes Mal hatte die andere garantiert was zu meckern.
»Nicht schon wieder diese bescheuerte Céline Dion«, rief Isabel eines Nachts und drückte ihre Zigarette aus. »Mir ist scheißegal, ob du Mark vermisst oder nicht.«
Morgan erschien im Türrahmen, die Hände in die Hüften gestemmt. Célines Stimme drang bereits aus dem Zimmer. »Aber ich war dran mit Aussuchen.«
»Ihr zwei braucht dringend ein neues Lied«, grummelte Isabel. »Aber das hast du jetzt davon: Wenn ich dran bin, lege ich als Nächstes Led Zeppelin auf, und zwar dreimal hintereinander.«
Morgan hockte sich wieder neben sie auf die Veranda: »Dann muss ich mir danach leider Neil Diamond aussuchen |97| und das willst du ja wohl auch nicht.« Morgan liebte die Schnulzenheinis: Tony Bennett, Tom Jones, Frank Sinatra. Den legte sie allerdings nur auf, wenn ihre Schicht wirklich richtig mies gelaufen war und sie Mark so vermisste, dass sie es kaum aushielt. Ich kannte die Lieder alle, weil meine Mutter auch Sinatra-Fan war.
»Na schön«, konterte Isabel. »In dem Fall suche ich mir später eines von diesen Rush-Liedern mit den ellenlangen Schlagzeugsolos aus. Ich tu’s zwar ungern, aber es geht dann leider nicht anders.«
»Ist ja schon gut«, meinte Morgan. »Ich lasse den Song auch nur ein einziges Mal laufen, Ehrenwort. Aber er fehlt mir so, verstehst du das nicht?«
Isabel schwieg. Sie sagte fast nie etwas, wenn Mark erwähnt wurde. Stattdessen presste sie die Lippen aufeinander und wandte sich ab, wenn sie seinen Namen hörte.
Céline Dion schmetterte ungehindert weiter. Morgan sang lautlos mit und strich dabei mit ihren bloßen Füßen über die Bretter, hin und her, her und hin. Eine Zeit lang schwiegen beide. Als das Lied ausklang, hielt Morgan Isabel ihre Bierflasche hin. Isabel beugte sich vor und stieß ihre Flasche klirrend dagegen.
Die Waffen ruhten wieder. So lief es jedes Mal.
Wenn keine von beiden Pläne hatte auszugehen, blieben sie oft die ganze Nacht da draußen hocken. Es wurde später und später. Irgendwann waren sie zu faul aufzustehen und ließen eine CD nach der anderen ganz durchlaufen. Isabel kannte jedes Lied auswendig und sang aus voller Kehle mit.
Sie hatten immer irgendwas zu bequatschen. Mir war es ein Rätsel, dass ihnen nie der Gesprächsstoff ausging. |98| Kaum trafen sie zusammen, egal wo, ging es auch schon los. Da wurde gelacht, gefrotzelt, jede Kleinigkeit kommentiert. Und mit jeder noch so nebensächlichen Bemerkung entstand zwischen ihnen aufs Neue jene enge Verbundenheit, die sie zusammenhielt wie ein Seil, das abwechselnd straff gespannt und locker gelassen wurde. Ihre Möglichkeiten,
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