Crazy Moon
miteinander zu reden und sich auszutauschen, waren so unerschöpflich wie ihre Musik.
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Mira fuhr auf Horoskope ab. Jeden Morgen, wenn sie ihres in der Zeitung studierte, machte sie Vorhersagen für den Tag.
»Hör dir das an«, rief sie eines Morgens aus. Ich bestrich gerade meinen Bagel mit Frischkäse – natürlich fettfrei –, während sie eine große Schüssel Sugar Pops mit Vollmilch – natürlich nicht fettfrei – vertilgte: die Art Frühstück, bei der meine Mutter Zustände bekommen würde. »Der heutige Tag erhält maximal eine Drei, denn Ihnen stehen einige Herausforderungen bevor. Aber wenn Sie gelassen bleiben und sich entspannen, haben Sie mehr Spielraum, als Sie benötigen. Schwerpunkte: Energie, Geduld, Zuversicht. Ein Steinbock könnte wichtig werden.«
»Hmmmmm«, lautete – wie üblich – mein Kommentar.
»Klingt spannend.« Nachdenklich schob sie einen großen Löffel Sugar Pops in den Mund. »Am besten, ich erledige alles, was ich zu erledigen habe, möglichst früh.«
Dieser Vorsatz hatte zur Folge, dass Mira, als ich zur Arbeit ging, im Schneckentempo auf ihrem Fahrrad neben mir herfuhr. Sie hatte ihr Haar unter eine Baseball-Mütze gestopft, trug Leggings, ein gigantisches gemustertes Hemd, ihre lila Turnschuhe und selbstverständlich die Terminator-Sonnenbrille.
|100| Sie tat übrigens grundsätzlich so, als merke sie nicht, dass die Leute sie anstarrten. Gelächter oder Hupen ignorierte sie einfach. Schön für sie. Mir dagegen war das Ganze so peinlich, dass es mit Sicherheit für uns beide reichte.
Als wir die Tankstelle gegenüber des Restaurants erreichten, bog Mira ab, hielt auf die Zapfsäulen zu und kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Ron, der Tankstellenbesitzer, las hinter seiner Verkaufstheke Zeitung. Sie winkte ihm zu und er winkte zurück, bevor er sich wieder in seine Morgenlektüre vertiefte.
Mira kletterte vom Rad und nahm ihre pinkfarbene Vinyltasche aus dem Fahrradkorb: »Okay, Colie, wir brauchen Weißbrot, Scheibletten und . . . was noch?«
Ich dachte kurz nach. Ein grüner Toyota hielt neben uns an. »Äh . . . ich hab’s vergessen.«
»Irgendwas brauchten wir noch.« Grübelnd schob Mira die Terminator-Brille zurück auf die Stirn. »Was war es gleich?«
Die Tür des Toyotas wurde zugeschlagen und ich hörte, wie jemand um den Wagen herumlief. »Limonade?«, schlug ich vor.
»Nein, nein, keine Limonade.« Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. »Es war . . .«
Hinter mir stand jetzt jemand.
»Milch!« Mira schnippte triumphierend mit den Fingern. »Wir brauchen Milch, Colie.
Das
war’s.«
»Na, wen haben wir denn da? Mira Sparks!«, sagte eine Frauenstimme in meinem Rücken. »Sie sehen ja heute Morgen wieder besonders prächtig aus!«
Ich brauchte mich nicht mal umzudrehen, ich musste lediglich einen Blick auf den Toyota werfen. Und natürlich |101| – im Kindersitz auf der Rückbank saß das kleine Mädchen. Weil sie tief und fest schlief, hing ihr Riesenkopf schlaff zur Seite herab.
»Hallo, Bea.« Mira nickte ihr zu, strich über ihre Handtasche und sagte zu mir: »Bis heute Nachmittag.«
»Okay.« Ich wandte mich um und sah Bea Williamson an, die mich mit zusammengekniffenen Augen musterte. Obwohl mir nicht klar war, ob ich wirklich gehen sollte, setzte ich mich langsam in Bewegung.
Mira öffnete die Tür zum Tankstellenshop und ging hinein. Bea Williamson hob ihre Tochter aus dem Auto, setzte sie auf ihre Hüfte und folgte Mira in den Laden.
Vielleicht würde ansonsten gar nicht mehr viel passieren. Vielleicht würde Bea es bei dieser einen Bemerkung belassen; im Grunde war es ja nicht einmal die Bemerkung gewesen, sondern der Tonfall. Aber ich war lange genug die Zielscheibe des Spottes anderer gewesen, um zu wissen, dass man sich darauf nicht verlassen konnte.
Ich schlängelte mich durch den morgendlichen Verkehr, um zum Last Chance zu gelangen, und begann meine Schicht wie jedes Mal damit, Salat zu waschen und zu hacken. Dennoch blickte ich immer wieder aus dem Fenster zur Tankstelle rüber und fragte mich, was dort drinnen vor sich ging. Ich ärgerte mich noch lange darüber, dass ich nicht geblieben war.
Es geschah ungefähr eine Woche später, an einem Freitag.
An Freitagen war immer die Hölle los, wir wurden von Tages- und Wochenendausflüglern geradezu überrannt, bevor sie Richtung Strand verschwanden. Morgan hatte fast jeden Freitag frei, nur für den Fall, dass Mark übers |102| Wochenende kam.
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