Crazy Moon
Frühstück.
»Was meinst du?«
Sie schob mir die Zeitung hin. Die Überschrift lautete: GRÖSSTE TOMATE ALLER ZEITEN. HIESIGER FARMER BRICHT ALLE REKORDE.
»Seit wann interessierst du dich für Tomaten?«
»Nein, nicht
der
Artikel.« Sie zeigte mit dem Löffel auf eine andere Stelle. »Hier, lies.«
Neben der Wettervorhersage für den kommenden Tag befand sich ein kurzer, von schwarzen Balken eingerahmter Text mit einer Abbildung des Mondes: »Totale Mondfinsternis am 15. August. Höhepunkt um 0:32 Uhr. Falls die Nacht klar ist, können Sie sich auf ein großartiges Himmelsschauspiel einrichten.«
»Ach ja, die Mondfinsternis. Die hatte ich total vergessen.«
»Wie kann man so was nur vergessen?« Mira schob sich einen Löffel Cornflakes in den Mund. »Spürst du denn gar nicht, wie seltsam alles gerade ist? Der Kosmos ist kurz davor auszuflippen. Große Veränderungen stehen uns bevor. Ich kann es kaum noch erwarten.«
Große Veränderungen. Ich dachte sofort an Norman, verdrängte ihn jedoch gleich wieder aus meinem Kopf. Es |241| war einfach zu absurd. »Aber bis zur Mondfinsternis dauert es noch ziemlich lange«, sagte ich.
Sie drehte sich zu ihrem Wandkalender und blätterte die vordere Seite um. Neben der Fünfzehn befand sich ein Mondsymbol und das Datum hatte sie mit einem violetten Stift umkringelt. »Siebzehn Tage. Der Countdown läuft.«
»Siebzehn Tage«, wiederholte ich. Sie widmete sich wieder der Zeitung und suchte ihr Horoskop, wobei sie munter ihre Cornflakes löffelte. In Miras Augen war Veränderung automatisch etwas Positives. Immer. Punkt.
Das fiel mir einige Tage später wieder ein, als ich abends bei Norman saß. Aus dem Radio drang Musik, so leise, dass man zwar die Lieder hören, die Texte jedoch nicht verstehen konnte. Die Tür stand offen. Über dem Wasser hing der Mond, groß, hell und halb.
»Noch vierzehn Tage«, sagte ich laut.
»Was?« Norman steckte seinen Kopf hinter der Leinwand hervor.
»Die Mondfinsternis. In vierzehn Tagen.«
»Stimmt.«
Ich lehnte mich im Sessel zurück und hob das Kinn, bevor er mich dazu aufforderte. An diese Position hatte ich mich ebenso gewöhnt wie daran, dass meine Tage sich nur noch um das eine drehten. Zwar ging ich nach wie vor zur Arbeit, joggte jeden Morgen am Strand lang, bahnte mir einen Weg durch Miras Schilderlabyrinth, doch irgendwie diente all das nur noch einem einzigen Ziel – dem Porträt. Seit fast einem Monat arbeiteten wir nun daran. Und während Norman mich langsam auf der Leinwand erschuf, lernte ich ihn auswendig, jedes Detail: die Wölbung seiner Augenbrauen, die Art, wie seine |242| Schulterblätter hervortraten, wenn er sich streckte, der Geruch nach Terpentin auf seiner Haut, der mir in die Nase stieg, wenn er den Raum durchquerte, um meine Position zu korrigieren. Seit neuestem erschrak ich jedes Mal zu Tode, wenn er aufhörte zu malen und den Pinsel regungslos in der Luft schweben ließ. So als könne er jeden Moment verkünden, das Bild sei fertig. Denn damit wäre alles vorbei.
»Ich kann mich noch gut an das erste Mal erinnern, dass ich eine Mondfinsternis beobachtet habe«, sagte er unvermittelt und riss mich aus meinen Gedanken. »Ich war sechs oder so. Meine Brüder und ich machten uns ein Lager draußen im Garten und wollten wach bleiben. Es war wirklich ein Wahnsinnsereignis.«
»Ja?«
»Ja.« Eine leichte Brise wehte durchs Zimmer, die Mobiles über meinem Kopf begannen sich zu drehen. »Sie schliefen ein, bevor es losging, genau wie mein Vater uns prophezeit hatte. Aber ich weiß noch genau, wie ich in meinem Schlafsack lag und zusah, wie der Mond verschwand. Obwohl ich wusste, was passieren würde, obwohl ich mich den ganzen Tag drauf gefreut hatte und es kaum erwarten konnte, bekam ich auf einmal totale Angst. Er kommt nämlich nicht sofort wieder. Er ist einfach weg, für lange, lange Zeit.«
Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte noch nie eine Mondfinsternis gesehen.
»Ich bin ins Schlafzimmer meiner Eltern gelaufen und habe meinen Vater geweckt.« Er schwenkte den Pinsel in einer Dose mit Verdünner. »Ich war fix und fertig. Hab geweint und ein Riesentheater gemacht. Meine Mutter sagte bloß ständig, sie hätte es gewusst. Ich wäre zu klein, |243| um draußen zu übernachten. Sie machte meinem Vater Vorwürfe, er hätte auf sie hören sollen. Das war vor der Scheidung. Aber mein Vater meinte, sie solle endlich still sein, damit er hören konnte, was ich sagte. Denn er verstand mich
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