Crazy Moon
siehst es erst, wenn es fertig ist.«
»Ich will es aber jetzt anschauen«, jammerte ich. An diesem Punkt gerieten wir regelmäßig aneinander, denn ich war genauso ungeduldig wie meine Mutter und konnte auf nichts warten.
»Dein Pech.« Wenn er wollte, war Norman sturer als stur. »Außerdem kann man jetzt sowieso noch nichts erkennen, alles ist durcheinander, noch im Werden. Ein Prozess. Was zählt, ist das Endergebnis.«
Norman hatte noch mehr Geheimnisse. Fast jeden Abend gegen viertel nach zehn klingelte das Telefon. Norman hob nie ab, der Mensch am anderen Ende der Leitung sprach nie ein Wort. Er räusperte sich nur, als warte er darauf, dass jemand anderer den ersten Schritt tat.
Ich wollte mir den Telefonhörer schnappen und den Mann – es musste Normans Vater sein, wer sonst? – zum Reden zwingen. Doch ich wusste, dass ich das nicht tun durfte. Deshalb hielt ich zähneknirschend still, wenn es klingelte, Abend für Abend.
|238| »Norman«, sagte ich schließlich eines Abends, »bitte geh ans Telefon. Bitte! Tu’s für mich.«
Er schüttelte den Kopf und sagte das Gleiche wie jedes Mal zuvor: »Kinn hoch.«
Wenn wir uns nicht wegen des Telefons in die Haare gerieten, hörten wir Musik. Zu meinem Entsetzen begann ich allmählich sogar fast seine Hippie-Bands zu mögen. Oder ich schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle, bis Norman ein Machtwort gegen die Sendungen aussprach, die ich aussuchte. Eines Abends stieß ich zufällig auf Kikis Werbesendung und ließ Norman zum ersten Mal an den Wundern des Po-Trainers, der Fly-Kiki-Motivationskassetten und des Diätprogramms »Nieder mit leeren Kalorien« teilhaben. Ich fand, es sei ein gerechter Ausgleich für Phish und Grateful Dead. Norman war fasziniert. Er legte sogar den Pinsel hin, um seine gesammelte Aufmerksamkeit auf die Super-Kalorienverbrennungsübungen meiner Mutter zu richten.
»Sie ist echt ’ne Nummer«, meinte er, während meine Mutter sich beugte, streckte, ihre Muskeln stählte und das Studiopublikum zu Begeisterungsstürmen hinriss.
»Ich weiß. Manchmal kann ich selbst kaum noch glauben, dass sie meine Mom ist.«
»Ich schon«, sagte er beiläufig ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden. »Ich sehe viel von ihr in dir.«
»Niemals.«
»Doch.« Er nahm den Pinsel wieder in die Hand und tauchte ihn in Farbe.
Das war mir neu. »Was zum Beispiel?«
»Kinn hoch.« Ich verdrehte die Augen. Wenigstens |239| sprach er weiter: »Zum Beispiel hat dein Gesicht die gleiche Herzform wie ihres. Und ihr beide haltet die Hände beim Sprechen auf eine bestimmte Weise dicht an der Taille. Und euer Lächeln ist auch gleich.«
Ich schaute meine Mutter an, die gerade landesweit von Fernsehbildschirmen strahlte. »So lächle ich nie.«
»Doch.« Er tupfte den Pinsel auf die Leinwand. »Schau genau hin, Colie. Das ist kein unechtes Lächeln. Bei vielen Leuten wäre es das, aber nicht bei ihr. Weil man mitkriegt, dass sie gern tut, was sie tut. Sogar sehr gern.«
Ich blickte wieder zu meiner Mutter. Eine Frau aus dem Publikum fragte gerade, wie man Satteltaschen an den Oberschenkeln loswürde. Norman hatte Recht: Meine Mutter sagte, was sie fühlte, und das sah man ihr an.
»Ich glaube, ich kannte dich schon drei Wochen, bevor ich dich das erste Mal lächeln sah«, fuhr er fort. »Eines Tages machte Morgan eine Bemerkung, die dich zum Lachen brachte. Ich weiß noch, dass ich dachte: Cool, wenn sie lacht, ist es echt, nicht aufgesetzt. Es bedeutet etwas. Du lächelst nicht einfach bloß so, Colie. Ich muss mir jedes einzelne Lächeln verdienen.«
In diesem Moment lächelte ich allerdings nicht. Im Gegenteil, ich war mir ziemlich sicher, dass mir der Mund offen stand und ich knallrot anlief. Norman senkte den Kopf und verschwand wieder hinter der Staffelei. Ich schluckte und versuchte meine Haltung wiederzugewinnen.
Was ging hier vor? Ich war mir nicht mal sicher, ob es sich nach wie vor nur in meinem Kopf abspielte.
»Kinn hoch.« Ich saugte mich an seinen Augen fest. |240| Und das, obwohl ich mir gleichzeitig vorstellte, wie er sich wieder zu mir beugen, mir das Haar hinter die Ohren streichen würde. Dieses Mal würde ich lächeln, keine Frage. »Kinn hoch.«
»Bald ist es so weit, Colie.« Mira und ich saßen zusammen am Tisch: Ich aß mein Vollkornmüsli, sie ihre zuckrigen Cornflakes. Meine Tage waren mittlerweile vollkommen ausgefüllt mit Arbeit und Modellsitzen, deswegen sahen wir uns fast nur noch beim
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